Drachenkinder
1
Nebenan schnarchte ein dicker Opa in der prallen Sonne auf seinem Liegestuhl. Um mich herum herrschte gepflegte Langeweile im Vier-Sterne-Ressort. Die Hotelgäste blätterten träge in Illustrierten oder starrten einfach Löcher in die Luft.
Das war irgendwie nicht der Tunesienurlaub, den ich mir vorgestellt hatte.
»Komm, Micki, ich habe keine Lust, hier herumzusitzen. Hauen wir ab!«
»Mich interessieren Land und Leute auch viel mehr als dickbäuchige Touristen beim Brutzeln«, pflichtete mir mein Mann Michael bei. »Rumliegen kann ich auch zu Hause in Bergfeld.«
Wir schnappten uns die Kinder und fuhren mit dem Taxi in die nahe gelegene Hafenstadt Zarzis. Gut eingecremt und mit Sonnenhut taperten Simon und Vanessa brav an der Hand neben uns her. Staub und Dreck, Hupen, lautes Stimmengewirr, fremde Gerüche, bunte Gewürze, Ziegen, barfüßige Kinder mit dunklen Gesichtern, die uns anstarrten – all diese ungewohnten Eindrücke stürzten auf uns ein. Mich erfasste ein aufregendes Prickeln.
»So sieht die Welt also aus, wenn man nicht im Hotelgetto bleibt!«
»Achtung, Eselskarren!«
Wir schoben uns durch die Souks, wo man Souvenirs aller Art bewundern konnte. Die Kinder klammerten sich an uns, halb ängstlich, halb fasziniert. Das Geschrei der Händler, ihr Feilschen und Lachen machte uns unsicher und gleichzeitig neugierig. Dazwischen drängten sich krebsrote Touristen durch das Gewühl, die sich gierig auf Silberschmuck und Lederwaren stürzten. Wie krass die zwei Welten hier aufeinanderprallten! Plötzlich empfand ich Scham.
»Puh, hier stinkt’s!«, jammerte mein Sohn und fächerte sich mit der Hand Luft zu.
»Na ja, wir sind in die Nähe des Schlachtplatzes geraten.« Michael nahm Vanessa auf den Arm. »Ist nicht gerade appetitlich hier.«
Mehrere Männer in bodenlangen braunen Kaftanen schleiften ein frisch geschlachtetes Schaf über den steinigen Boden und zogen eine ordentliche Blutspur hinter sich her.
»Lass uns mal da rübergehen!« Ich zupfte Micki ungeduldig am Arm.
Hinter der Markthalle lag in flirrender Hitze ein staubiger Platz, auf dem es von faulenden Gemüseresten nur so wimmelte. Fliegen umsurrten die stinkenden Abfälle. Ich presste mir ein Tuch vor Mund und Nase.
»Kein schöner Anblick«, bemerkte Micki. »Lass uns zum Hafen runtergehen. Bunte Fischerboote gucken.«
»Jetzt warte doch mal!« Wie angewurzelt blieb ich stehen. »Sind das etwa … Menschen?«
Mir stockte der Atem. Die schmutzigen Haufen am Rande des Schlachtplatzes, wo sich Abwasser mit Blutlachen mischte, die hatten … Gesichter!
»Schatz, das sind Bettler.«
Mir wurde schlecht.
»Aber der hier hat keine Beine!«
»Nein, Liebling. So sind die Zustände hier.«
»Er sitzt im Dreck! Und der hier ist blind!«
»Ja, mein Schatz. Das ist traurig. Hier sitzen eine Menge Krüppel. Was sollen sie machen?«
»Und diese völlig ausgemergelte Frau, die hat doch nicht etwa … O Gott, das ist ein – Baby!«
Die ausgezehrte Gestalt presste einen winzigen Säugling an sich und streckte bittend die Hand aus. Mitten im Gewühl, kaum beachtet von Händlern und Touristen, starrte sie uns mit riesigen glanzlosen Augen an: die nette, satte Familie aus Niedersachsen, die nur mal so zum Bummeln hier war. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
»Aber Micki, wir können doch nicht einfach so weitergehen!«
»Nein, Schatz. Wir geben ihnen was.«
Ich suchte nach dem Portemonnaie und verteilte mein ganzes Bargeld an die Bettler, die mich fassungslos anstarrten. Zahnlose Münder öffneten sich, um sich zu bedanken. Ich sah entstellte Gesichter, Geschwüre und verstümmelte Gliedmaßen. Ich sah das nackte Elend. Und das Beschämende war: Es lächelte. Demütig. Ich fühlte mich miserabel.
»Komm Sybille, jetzt ist es gut. Im Hotel ist jetzt Kaffee- und Kuchenzeit.«
»Kaffee und Kuchen?« Ein Abgrund tat sich auf. »Wir können doch jetzt nicht einfach so in unsere Vier-Sterne-Anlage zurückgehen und so tun, als ob wir das hier nicht gesehen hätten!« Mir schossen Tränen in die Augen.
»Liebes, ich weiß dein großes Herz sehr zu schätzen.« Micki legte den Arm um mich und zog mich fort. »Aber das ist kein Anblick für Kinder. Die sind schon ganz verstört.«
Simon und Vanessa blickten mit einer Mischung aus Faszination und Ekel auf diese menschlichen Wracks. Ihnen konnte ich das nicht verdenken, schließlich waren sie erst sechs und drei. Aber die Touristen, die auch noch ihre Kameras auf dieses Elend hielten!
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