Drachenläufer
nicht, und auf die Frage meiner Mutter wollten sie nicht antworten. Das war nicht besonders überraschend; man wusste schließlich, dass die Kommunisten keinen Stil haben. Die kamen ja aus armen, namenlosen Familien. Dieselben Hunde, die mir vor den Shorawi nicht das Wasser reichen konnten, drohten mir jetzt mit ihren Waffen. Sie trugen Parcrtami-Abzeichen am Kragen, faselten was vom Fall der Bourgeoisie und führten sich genau so auf, wie man es erwarten muss von Leuten, die einfach keinen Stil haben. Ähnliche Szenen haben sich überall abgespielt: Die Reichen wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Wir sollten für die Genossen als abschreckendes Beispiel herhalten.
Wie dem auch sei, man sperrte uns zu sechst in winzige Zellen, die kaum größer waren als ein Kühlschrank. Der Kommandant, ein Untier, das, halb Hazara, halb Usbeke, wie ein verwesender Esel stank, zerrte jede Nacht einen der Gefangenen aus der Zelle und prügelte auf ihn ein, bis er selbst in Schweiß ausbrach. Dann steckte er sich eine Zigarette an, ließ die Fingergelenke knacken und verschwand. In der nächsten Nacht knöpfte er sich jemand anders vor. Irgendwann war auch ich an der Reihe. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte es nicht geben können. Schon seit drei Tagen pinkelte ich Blut. Nierensteine. Glaub mir, gemeinere Schmerzen gibt es nicht. Damit hatte auch meine Mutter zu tun, und ich erinnere mich, wie sie einmal sagte, dass sie lieber ein Kind zur Welt bringen würde als Nierensteine. Tja also, ich wurde rausgezerrt, und er trat auf mich ein. Wie in jeder Nacht trug er auch diesmal seine kniehohen Stiefel mit Stahlkappen, und die ließ er mich fühlen. Ich schrie und schrie, und er hörte nicht auf zu treten. Irgendwann traf er auch meine linke Niere, und auf einmal war der Stein raus. Einfach so. Was für eine Erleichterung!« Assef lachte. »Ich schrie >Allah-u-akbar<, und als er deswegen noch brutaler auf mich eintrat, fing ich zu lachen an. Das brachte ihn fast zum Wahnsinn, denn je fester er trat, desto lauter lachte ich. Ich lachte noch, als man mich zurück in die Zelle warf. Ich hörte gar nicht mehr auf zu lachen, denn ich wusste jetzt, Gott war auf meiner Seite. Er brauchte mich als sein Werkzeug.
Stell dir vor, ein paar Jahre später treffe ich diesen Kommandanten plötzlich auf dem Schlachtfeld wieder. Gottes Wege sind wirklich seltsam. Ich entdeckte ihn in einem Schützengraben bei Meymanah. Er war von einem Granatsplitter getroffen worden und blutete aus der Brust. Trug immer noch dieselben Stiefel. Ich fragte ihn, ob er sich an mich erinnerte. Fehlanzeige. Ich sagte ihm, was ich auch dir gesagt habe, nämlich, dass ich nie ein Gesicht vergesse. Dann habe ich ihm die Eier abgeschossen. Seitdem habe ich eine Mission zu erfüllen.«
»Was soll das für eine Mission sein?«, hörte ich mich fragen. »Ehebrecher steinigen? Kinder vergewaltigen? Frauen verprügeln, weil sie hohe Absätze tragen? Hazara massakrieren? Und das alles im Namen des Islam?« Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor und waren gesagt, ehe ich mich bremsen konnte. Ich wünschte, sie zurücknehmen, sie verschlucken zu können. Aber sie waren draußen. Damit war eine Grenze überschritten, und mir schien, dass ich meine letzte Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, mit diesen Worten preisgegeben hatte.
Assef zeigte sich verwundert, allerdings nur einen kurzen Moment lang. »Wie ich sehe, könnte die Sache am Ende doch noch lustig werden«, höhnte er. »Nun, es gibt Dinge, die Verräter wie du einfach nicht verstehen.«
»Zum Beispiel?«
Assefs Brauen zuckten. »Zum Beispiel das Gefühl von Stolz auf das eigene Volk, auf seine Sitten und seine Sprache. Afghanistan ist wie ein wunderschönes Herrenhaus, das aber leider im Abfall versinkt. Jetzt müssen Leute ran, die diesen Abfall rausschaffen.«
»Und das macht euresgleichen in Mazar, verstehe ich das richtig? Ihr geht von Tür zur Tür und schafft den Abfall raus?«
»Genau.«
»Im Westen gibt es einen Ausdruck für so etwas«, sagte ich. »Man nennt es ethnische Säuberung.«
»Ach ja?« Assef zeigte sich amüsiert. »Ethnische Säuberung. Gefällt mir. Klingt gut.« »Ich will nur den Jungen, sonst nichts.«
»Ethnische Säuberung«, murmelte Assef, als versuchte er, die Wörter zu schmecken.
»Ich will den Jungen«, wiederholte ich. Suhrabs Augen huschten in meine Richtung -Augen wie die eines Schafs auf der Schlachtbank. Ich erinnerte mich, wie der Mullah zum Opferfest in
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