Drachenläufer
££ Khaled Hosseini
Drachenläufer
Roman
Die Schreibweise der Namen und kursiv gesetzten Begriffe aus dem Arabischen, Dari (Afghanischen), Farsi (Persischen) und dem Paschto folgt den Regeln der englischen Umschrift.
Dieses Buch widme ich Haris und Farah, meinen beiden Augensternen, und den Kindern von Afghanistan.
1
A n einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich - im Alter von zwölf Jahren - zu dem, der ich heute bin. Ich erinnere mich noch genau an den Moment: Ich hockte hinter einer bröckelnden Lehmmauer und spähte in die Gasse in der Nähe des zugefrorenen Bachs. Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir bewusst, dass ich die letzten sechsundzwanzig Jahre immerzu in diese einsame Gasse gespäht habe.
Im vergangenen Sommer rief mich eines Tages mein Freund Rahim Khan aus Pakistan an. Er bat mich, ihn zu besuchen. Während ich in der Küche stand und den Hörer ans Ohr hielt, wusste ich, dass das da am Telefon nicht nur Rahim Khan war. Es war die ungesühnte Schuld meiner Vergangenheit. Nachdem ich aufgelegt hatte, machte ich einen Spaziergang entlang dem Spreckels Lake am nördlichen Rand des Golden Gate Parks. Die frühe Nachmittagssonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen Brise angetrieben, dahinsegelten. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen - rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks, schwebten Seite an Seite wie ein Augenpaar, das auf San Francisco hinunterblickte, die Stadt, die ich heute mein Zuhause nenne. Und plötzlich flüsterte Hassans Stimme in meinem Kopf: Für dich - tausendmal. Hassan mit der Hasenscharte, der so gern Drachen steigen ließ.
Ich setzte mich auf eine Parkbank in der Nähe einer Weide und dachte über etwas nach, was Rahim Khan, kurz bevor er auflegte - als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen -, gesagt hatte. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen. Ich blickte zu den beiden Drachen hinauf. Ich dachte an Hassan. An Baba. An Ali. An Kabul. Ich dachte an das Leben, das ich geführt hatte, bis jener Winter des Jahres 1975 kam und alles veränderte. Und mich zu dem machte, der ich heute bin.
2
Als Kinder kletterten Hassan und ich auf die Pappeln entlang der Auffahrt zum Haus meines Vaters und ärgerten unsere Nachbarn, indem wir die Sonnenstrahlen mit einer Spiegelscherbe in ihre Häuser reflektierten. Wir saßen mit baumelnden nackten Füßen auf zwei hohen Ästen einander gegenüber, die Taschen voller getrockneter Maulbeeren und Walnüsse, und wechselten uns mit dem Spiegel ab, während wir die Maulbeeren vertilgten und uns kichernd damit bewarfen. Ich sehe Hassan immer noch vor mir auf diesem Baum. Das durch die Blätter gefilterte Sonnenlicht schimmerte auf seinem beinahe perfekt gerundeten Gesicht, dem Gesicht einer chinesischen Puppe, aus Hartholz geschnitten: flache, breite Nase und schräge, schmale Augen, die an Bambusblätter erinnerten, Augen, die je nach Licht gold, grün oder sogar saphirblau glänzten. Ich sehe immer noch seine winzigen, tief am Kopf sitzenden Ohren und diesen spitzen Stummel von einem Kinn vor mir, der wie nachträglich angeklebt wirkte. Und den Spalt in der Oberlippe, direkt links neben der Einbuchtung, wo das Werkzeug des chinesischen Puppenmachers wohl abgerutscht sein musste - oder vielleicht war er auch einfach müde und nachlässig geworden.
Manchmal, wenn wir dort oben in den Bäumen saßen, überredete ich Hassan, mit seiner Schleuder Walnüsse auf den einäugigen deutschen Schäferhund unseres Nachbarn zu schießen. Hassan wollte das eigentlich nie, aber wenn ich ihn darum bat, ihn wirklich darum bat, konnte er es mir nicht abschlagen. Hassan schlug mir nie etwas ab. Und er war unglaublich treffsicher mit seiner Schleuder. Hassans Vater, Ali, erwischte uns für gewöhnlich dabei und wurde wütend - oder zumindest so wütend, wie jemand, der so sanft war wie Ali, eben werden konnte. Er drohte uns mit dem Finger und winkte uns vom Baum herunter. Dann nahm er uns den Spiegel ab und belehrte uns mit den Worten, die er von seiner Mutter kannte und die besagten, dass auch der Teufel mit Spiegeln blendete, sie dazu benutzte, Muslime vom Beten abzulenken. »Und er lacht
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