Drachenläufer
oder sie gingen ins Kino. Hassan brachte ihm bei, wie man eine Schleuder benutzt, und Suhrab stellte sich sehr geschickt damit an. Mit acht Jahren konnte er von der Terasse aus einen Kiefernzapfen treffen, der in der Mitte des Gartens aufrecht auf einem Eimer platziert worden war. Hassan brachte ihm auch Lesen und Schreiben bei - sein Sohn sollte nicht ungebildet aufwachsen wie er. Ich begann an dem kleinen Jungen zu hängen -ich hatte gesehen, wie er die ersten Schritte tat, hatte ihn sein erstes Wort sprechen hören. Ich kaufte Suhrab Kinderbücher in dem Buchladen neben dem Park-Kino - das sie inzwischen auch zerstört haben -, und Suhrab las sie so schnell durch, dass ich kaum genug Nachschub besorgen konnte. Er erinnerte mich an dich, Amir jan, du hast, als du klein warst, auch unheimlich gern gelesen. Manchmal habe ich ihm abends etwas vorgelesen, ihm Rätsel aufgegeben und Kartenspielertricks beigebracht. Ich vermisse ihn schrecklich.
Im Winter nahm Hassan seinen Sohn mit zum Drachenlaufen. Es gab nicht annähernd so viele Drachenturniere wie in der guten alten Zeit - niemand fühlte sich draußen auf Dauer sicher -, aber hin und wieder wurde ein Kampf veranstaltet. Hassan setzte sich Suhrab auf die Schultern und trabte mit ihm durch die Straßen, jagte Drachen hinterher, kletterte auf Bäume, in denen sie gelandet waren. Weißt du noch, was für ein guter Drachenläufer Hassan einmal gewesen ist? Und er hatte nichts davon verlernt. Als der Winter zu Ende ging, hängten Hassan und Suhrab all die Drachen, die sie in der kalten Jahreszeit erlaufen hatten, an die Wände des großen Flurs. Wie Gemälde.
Ich habe dir ja erzählt, wie wir alle 1996 gefeiert haben, als die Taliban hereinrollten und den täglichen Kämpfen ein Ende bereiteten. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend nach Hause kam und Hassan in der Küche antraf, wo er Radio hörte. Sein Gesicht war ernst. Ich fragte ihn, was los sei, aber er schüttelte nur den Kopf. »Gott stehe jetzt den Hazara bei, Rahim Khan Sahib«, sagte er.
»Der Krieg ist vorbei«, erwiderte ich. »Es wird endlich Frieden geben, inshallah, und Glück und Ruhe. Keine Raketen mehr, kein Töten, keine Beerdigungen!« Aber er schaltete nur das Radio aus und fragte, ob er noch etwas für mich tun könne, bevor er zu Bett ging.
Einige Wochen später verboten die Taliban die Drachenkämpfe. Und zwei Jahre später, 1998, verübten sie ein Massaker an den Hazara in Mazar-e-Sharif.
17
Rahim Khan streckte langsam die Beine aus und lehnte sich vorsichtig und behutsam wie jemand, der bei jeder Bewegung vom Schmerz durchbohrt wird, an die nackte Wand. Draußen schrie ein Esel, und jemand rief etwas auf Urdu. Die Sonne ging langsam unter, glitzerte rot durch die Lücken zwischen den baufälligen Mauern.
Das ungeheure Ausmaß dessen, was ich in jenem Winter und dem darauf folgenden Sommer getan hatte, wurde mir aufs Neue bewusst. Namen schwirrten mir durch den Kopf: Hassan, Suhrab, Ali, Farzana, Sanaubar. Als Rahim Khan Alis Namen aussprach, war es, als würde man eine alte Spieldose öffnen und eine Melodie zum Leben erwecken, die man seit Jahren nicht mehr vernommen hatte: Wen hast du denn heute gefressen, Babalu? Wen hast du heute gefressen, du schlitzäugiger Esel? Ich versuchte mir Alis erstarrtes Gesicht vorzustellen, versuchte seine sanften Augen wirklich vor mir zu sehen, aber die Zeit ist manchmal ein gieriges Ding: Sie raubt die Einzelheiten, will sie ganz für sich allein behalten.
»Lebt Hassan jetzt immer noch in dem Haus?«, fragte ich.
Rahim Khan hob die Teetasse an seine trockenen Lippen und nahm einen Schluck. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Weste und reichte ihn mir. »Für dich.«
Ich riss den verschlossenen Umschlag auf. Darin fand ich ein Polaroidfoto und einen gefalteten Brief. Ich starrte das Foto eine geschlagene Minute lang an.
Ein Mann mit einem weißen Turban und einem grün gestreiften chapan stand mit einem kleinen Jungen vor einem schmiedeeisernen Tor. Von der linken Seite fiel schräg das Sonnenlicht ins Bild und warf einen Schatten auf die eine Hälfte seines runden Gesichts. Er lächelte blinzelnd in die Kamera und entblößte dabei einige fehlende Vorderzähne. Selbst auf dem verwackelten Polaroidfoto strahlte der Mann in dem chapan Selbstsicherheit und Unbefangenheit aus. Es lag wohl an der Art und Weise, wie er mit leicht gespreizten Beinen dastand, die Arme locker auf der Brust gekreuzt, den Kopf ein wenig Richtung
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