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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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aber er war zu schnell für mich. Ich sah, wie er den Hügel hinaufhastete, wo ihr zwei immer gespielt habt, und seine Füße wirbelten wahre Staubwolken auf. Ich ließ ihn ziehen. Ich saß den ganzen Tag bei Sanaubar, während sich die Farbe des Himmels von strahlendem Blau in Violett verwandelte. Als die Dunkelheit anbrach und die Wolken im Mondlicht badeten, war Hassan immer noch nicht zurückgekehrt. Sanaubar rief unter Tränen, dass ihre Rückkehr ein Fehler gewesen sei, vielleicht schlimmer noch als ihr Verschwinden. Aber ich überredete sie zu bleiben. Hassan würde wiederkommen, das wusste ich.
    Er kehrte am nächsten Morgen müde und erschöpft zurück, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er nahm Sanaubars Hand in seine Hände und erklärte ihr, sie könne weinen, wenn ihr danach sei, aber sie brauche es nicht, denn sie sei nun zu Hause, zu Hause bei ihrer Familie. Er berührte die Narben in ihrem Gesicht und strich ihr übers Haar.
    Hassan und Farzana pflegten sie gesund. Sie fütterten sie und wuschen ihre Kleidung. Ich gab ihr eins der Gästezimmer. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster des Arbeitszimmers in den Garten blickte, sah ich Hassan und seine Mutter nebeneinander knien und sich beim Tomatenpflücken oder beim Beschneiden der Rosenbüsche unterhalten - sie taten, was sie all die Jahre nicht hatten tun können. Soweit ich weiß, hat er sie nie gefragt, wo sie gewesen ist oder warum sie ihre Familie verlassen hat, und sie hat es nie erzählt. Manche Geschichten müssen wohl nicht erzählt werden.
    Es war Sanaubar, die Hassans Sohn in jenem Winter 1990 auf die Welt holte. Es hatte noch nicht zu schneien begonnen, aber die Winterwinde bliesen durch den Garten, drückten die Köpfe der Blumen zu Boden und fuhren raschelnd durch die Blätter. Ich weiß noch, wie Sanaubar aus der Hütte kam und ihren Enkelsohn, der in eine Wolldecke gehüllt war, in den Armen hielt. Sie stand strahlend unter einem bedeckten, grauen Himmel, die Tränen liefen ihr über die Wangen, der eiskalte Wind blies ihr durch das Haar, und sie hielt diesen Jungen in ihren Armen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie reichte ihn Hassan, der ihn mir reichte, und ich sang das Ayat-ul-kursi-Gebet in das Ohr des kleinen Jungen.
    Sie nannten ihn Suhrab, nach Hassans Lieblingshelden aus dem Shahname, wie du ja weißt, Amir jan. Er war ein wunderschöner kleiner Junge, so süß, und er besaß das gleiche Naturell wie sein Vater. Du hättest Sanaubar mit dem Jungen sehen sollen, Amir jan. Er wurde ihr Ein und Alles. Sie nähte Kleider für ihn, bastelte ihm Spielzeug aus Holzstückchen und Lumpen und getrocknetem Gras. Wenn er Fieber bekam, blieb sie die ganze Nacht auf und fastete drei Tage. Sie verbrannte isfand für ihn in einer Bratpfanne, um nazar, den bösen Blick, zu vertreiben. Als Suhrab zwei Jahre alt war, nannte er sie Sasa. Die beiden waren unzertrennlich.
    Sie erlebte noch, wie er vier Jahre alt wurde, und dann, eines Morgens, wachte sie einfach nicht mehr auf. Sie machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, als hätte es ihr nichts ausgemacht, jetzt zu sterben. Wir begruben sie auf dem Friedhof, an dem Abhang, wo der Granatapfelbaum steht, und ich sprach auch für sie ein Gebet. Der Verlust traf Hassan hart - es ist immer schlimmer, etwas zu besitzen und dann zu verlieren, als es erst gar nicht zu besitzen. Aber viel schlimmer noch traf es den kleinen Suhrab. Er wanderte tagelang auf der Suche nach Sasa im Haus herum. Aber du weißt ja, wie kleine Kinder sind, sie vergessen so schnell.
    Inzwischen - wir schrieben jetzt das Jahr 1995 - waren die Shorawi besiegt und längst verschwunden, und Kabul gehörte Massoud, Rabbani und den Mudjaheddin, die sich gegenseitig erbitterte Kämpfe um die Macht lieferten. Nie wusste man, ob man am Ende des Tages noch leben würde. Unsere Ohren gewöhnten sich an das Pfeifen der heranfliegenden Granaten, das Donnern des Gefechtsfeuers, und unsere Augen gewöhnten sich an den Anblick von Männern, die Leichen unter Trümmern hervorzogen. Kabul war in jenen Tagen wahrhaftig der reinste Vorhof der Hölle, Amir jan. Aber Allah war uns dennoch freundlich gesinnt: Das Wazir-Akbar-Khan-Viertel wurde nicht so häufig angegriffen, und so erging es uns nicht ganz so schlimm wie einigen anderen Vierteln.
    Wenn in jenen Tagen einmal weniger Raketen abgefeuert wurden und nicht ganz so viele Schüsse fielen, ging Hassan mit Suhrab in den Zoo, damit er sich Marjan, den Löwen, ansehen konnte,

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