Drachenläufer
Sonne geneigt. Aber hauptsächlich lag es daran, wie er lächelte. Wenn man sich dieses Foto ansah, konnte man zu dem Schluss kommen, dies sei ein Mann, der glaubte, das Schicksal habe es gut mit ihm gemeint. Rahim Khan hatte Recht, ich hätte ihn sofort erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. Der kleine Junge war barfuß, hatte einen Arm um den Oberschenkel des Mannes geschlungen, und sein rasierter Kopf ruhte an der Hüfte seines Vaters. Auch er lächelte blinzelnd in die Kamera.
Ich faltete den Brief auseinander. Er war auf Farsi geschrieben. Kein einziger Punkt war ausgelassen worden, kein Strich vergessen, keine Buchstaben ineinander gerutscht - die Handschrift hatte etwas Kindliches in ihrer Ordentlichkeit. Ich begann zu lesen:
Im Namen Allahs des Allmächtigen und des Barmherzigen sende ich dir, Amir Aga, meine respektvollsten Grüße.
Farzana jan, Suhrab und ich beten darum, dass dich unser Brief bei guter Gesundheit und im Schein der Gnade Allahs erreicht. Bitte richte Rahim Khan Sahib meine tiefe Dankbarkeit aus, dass er ihn dir überbringt. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages einen deiner Briefe in meinen Händen halten werde und etwas über dein Leben in Amerika erfahren kann. Vielleicht wird sogar eine Fotografie von dir unsere Augen erfreuen. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!
Amir Aga,
leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst - in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten -, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.
Vor ein paar Tagen habe ich Farzana jan auf den Basar begleitet, um ein paar Kartoffeln und etwas naan zu kaufen. Sie fragte den Händler, wie viel die Kartoffeln kosteten, aber er hörte sie nicht, ich glaube, er war ein wenig taub. Also stellte sie ihre Frage lauter, und plötzlich kam ein junger Talib auf sie zugerannt und schlug ihr mit einem Holzstock auf den Oberschenkel. Er schlug so fest zu, dass sie hinfiel. Er schrie sie an und fluchte und rief, dass es das Ministerium für Laster und Tugend nicht erlaube, dass eine Frau die Stimme erhebt. Sie hatte tagelang einen großen violetten Fleck auf dem Oberschenkel, aber was blieb mir anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie meine Frau geschlagen wurde? Hätte ich gekämpft, hätte mir dieser Hund sicherlich mit Freude eine Kugel in den Leib gejagt! Und was wäre dann aus meinem Suhrab geworden? Die Straßen sind schon voll genug mit hungrigen Waisenkindern, und ich danke Allah jeden Tag, dass ich am Leben bin, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Tod habe, sondern weil so meine Frau einen Mann hat und mein Sohn kein Waisenjunge ist.
Wenn du Suhrab doch nur sehen könntest! Er ist ein guter Junge. Rahim Khan Sahib und ich haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht, damit er nicht so unwissend aufwächst wie sein Vater. Und wie er mit der Schleuder umgehen kann! Manchmal nehme ich ihn mit nach Kabul und kaufe ihm Süßigkeiten. Es gibt immer noch einen Affen-Mann in Shar-e-Nau, und wenn wir zu ihm gehen, bezahle ich ihn dafür, dass er seinen Affen für Suhrab tanzen lässt. Du solltest sehen, wie er lacht! Wir beide marschieren oft zu dem Friedhof auf dem Hügel. Weißt du noch, wie wir unter dem Granatapfelbaum dort oben gesessen und im Shahname gelesen haben? Die Dürren haben den Hügel ausgetrocknet, und der Baum hat schon seit Jahren keine Früchte mehr getragen, aber Suhrab und ich sitzen immer noch in seinem Schatten, und ich lese ihm aus dem Shahname vor. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass sein Lieblingsteil der ist, in dem sein Namensvetter vorkommt, der, in dem es um Röstern und Suhrab geht. Es wird nicht mehr lange dauern, und er kann selbst in dem Buch lesen. Ich bin ein sehr stolzer und glücklicher Vater. Amir Aga,
Rahim Khan Sahib ist sehr krank. Er hustet den ganzen Tag, und wenn er sich den Mund abwischt, ist Blut an seinem Ärmel. Er hat stark abgenommen, und ich wünschte, er würde etwas von der shorwa mit Reis essen, die Farzana jan für ihn kocht. Aber er nimmt immer nur einen
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