Drachenlied
Gedanken, dass Menolly die geliebte Musik fehlen könnte, kam sie nicht. Mavi hatte die Erfahrung gewonnen, dass die Zeit alles Leid heilte, und darum versuchte sie, ihre Tochter durch Arbeit abzulenken.
Die Beschäftigung im Freien machte Menolly sogar Spaß. Sie war den ganzen Tag an der frischen Luft und weit weg von anderen Menschen. Morgens frühstückte sie ruhig in der
großen Küche, während alles umherhetzte, um die Männer zu versorgen, die entweder von der Nachtfahrt heimkamen oder alles zum Morgenfang vorbereiteten. Danach packte Menolly etwas Proviant ein, nahm ein Netz oder einen Sack und wanderte los.
Die Sonne schien jetzt wärmer und ein Blütenteppich lag über dem Sumpfland. Vom Meer her kamen Scharen von Spinnenklauen und legten ihre Eier ins seichte Wasser der Bucht. Da diese dicken Schalentiere als Delikatesse galten, schickte man die jungen Leute aus der Burg - Menolly unter ihnen - mit Netzen, Reusen und Schaufeln los. VierTage später waren die Strände nahe der Burg leer geräumt, und die Kinder mussten immer weiter gehen, um die begehrten Leckerbissen zu sammeln. Allerdings ermahnten die Erwachsenen sie, nicht allzu weit fortzulaufen, da man jederzeit mit einem Fädeneinfall rechnen musste.
Es gab noch eine Gefahr, die dem Burgherrn viel Kummer bereitete: In diesem Jahr stand das Wasser ungewöhnlich hoch und erfasste bei Flut Landstriche, die seit Menschengedenken trocken geblieben waren. Wenn der Meeresspiegel noch weiter stieg, konnte er die beiden größten Schiffe seiner Fangflotte nicht mehr in die Dockhöhle steuern, ohne die Masten zu kappen. Bereits jetzt stand das Wasser zwei Handbreit über allen Marken vergangener Flutperioden.
Yanus ließ die tiefer gelegenen Höhlen absichern und die niedrigen Kaimauern durch Sandsäcke verstärken.
Ein einziger kräftiger Sturm würde genügen, die Dämme zu überfluten. Yanus zeigte sich so besorgt, dass er ein langes Gespräch mit Onkelchen führte, um herauszufinden, ob der alte Mann sich an ähnliche Begebenheiten von früher erinnerte. Onkelchen war begeistert, dass er einmal reden durfte, und faselte etwas vom Einfluss der Sterne, aber als Yanus, Elgion und zwei der älteren Schiffsmeister sich näher mit
seinen Aussagen befassten, blieb nicht viel Greifbares übrig. Jeder wusste, dass die beiden Monde und nicht die drei hellen Sterne am Himmel die Gezeiten steuerten.
Der Baron sandte jedoch eine Botschaft nach Igen, in welcher er das auffällige Verhalten der Gezeiten schilderte, und er bat, dass man sie so rasch wie möglich an Fort weiterleiten möge; dort befand sich die älteste und größte Meeresburg. Yanus wollte unter allen Umständen verhindern, dass seine größten Schiffe auf offener See bleiben mussten, und so achtete er genau auf die Gezeiten, fest entschlossen, die Boote in der Dockhöhle zu lassen, wenn der Meeresspiegel noch eine Handbreit anstieg.
Den Kindern befahl man, am Strand die Augen offen zu halten und alle Veränderungen zu melden, besonders neue Hochwassermarken in den Buchten. Natürlich benutzten das die Mutigeren als Ausrede für lange Streifzüge entlang der Küste. Menolly, die jene abgelegenen Strände lieber allein erforschte, erwähnte immer wieder die Gefahr eines plötzlichen Sporenregens.
Dann, nach dem nächsten Fädeneinfall, als alle ausrücken mussten, um Spinnenklauen zu sammeln, sicherte sich Menolly einen kleinen Vorsprung und lief los; sie wusste, dass mit ihren langen Beinen kaum einer Schritt halten konnte.
Es machte Spaß, so dahinzurennen, dachte Menolly. Eine Hügelkuppe entzog sie den Blicken ihrer nächsten Verfolger. Das Gelände wurde uneben und sie verlangsamte ihre Schritte ein wenig; ein verstauchter oder gebrochener Knöchel hätte ihr gerade noch gefehlt, denn laufen, das konnte man auch, wenn man eine verkrüppelte Hand hatte.
Menolly verschloss ihr Inneres vor diesem Gedanken. Sie hatte sich einen Trick angewöhnt, wenn der Kummer sie zu überwältigen drohte: Sie zählte. Im Moment zählte sie ihre Schritte. Sie lief weiter, den Blick fest nach vorn auf den Weg
geheftet. Die Jungen konnten sie jetzt nie mehr einholen; sie rannte aus reiner Freude an der Bewegung und summte zu jedem Schritt eine Zahl. Sie rannte, bis sie Seitenstechen und ein Ziehen in den Oberschenkeln spürte.
Einen Moment lang blieb sie stehen und hielt das heiße Gesicht in die Brise, die vom Meer her wehte. Der Wind schmeckte nach Salz und Tang. Menolly atmete tief durch. Sie war erstaunt,
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