Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
Chrysantheme über Seide streiften, sagte Shei-Luin: »Ich frage dich noch ein einziges Mal. Wo ist mein Kind, mein kleiner Xu?«
Baisha hörte die Rasiermesserklinge hinter der Seide, wie sie es beabsichtigt hatte. Er wurde noch bleicher. Nun war er ein vollkommen graues Geschöpf: graues Haar, graues Gewand, graues Gesicht.
»Ich … ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Shei-Luin riß eine Hand in einer Hackbewegung nach unten. Wie ein Tiger sprang Murohshei zu, bevor der verwundete Mann sich bewegen konnte. Einen Augenblick später war Murohshei hinter Baisha; er packte das Haar des Mannes mit einer Hand und riß den Kopf des erschrockenen Gefangenen zurück. In der anderen Hand hielt er ein kleines, aber tödliches Messer an die entblößte Kehle und drückte die Spitze in die helle Haut.
»Reg dich nicht«, hauchte Murohshei. »Wehr dich nicht. Gib kein Geräusch von dir, Schwein.« Er drückte mit dem Dolch ein wenig fester zu. Ein Blutstropfen erschien.
»Und nun, Abschaum«, sagte Shei-Luin, »sehen wir, ob du klüger geworden bist. Du weißt, wohin sie meinen Sohn bringen, Baisha. Du wirst es mir sagen.« Sie zitterte und konnte ihre Wut kaum beherrschen. Sie ließ Baisha erkennen, daß sie nur seinen Tod im Sinn hatte.
Sprich, oder du wirst qualvoll sterben.
Baisha versuchte sie niederzustarren. Narr; glaubte er, sie wäre eine gewöhnliche Frau? Sie war die Kaiserin von Jehanglan.
Schweißtropfen standen auf Baishas Stirn. Seine Lippen bebten, und Murohshei bewegte langsam, ganz langsam das Messer, so daß nun die gesamte Klinge an der Kehle des Mannes lag.
Jhanuns Diener entleerte vor Angst seine Gedärme. Der Dolch bewegte sich – nur ein wenig. Nur so wenig.
»Rhampul!« quiekte Baisha wie das Schwein, das er war. »Sie bringen ihn nach Rhampul!«
»Warum nach Rhampul?« wollte Shei-Luin wissen.
»Die Soldaten dort sind Jhanun treu, und einige stammen aus den Bergen. Wenn du Truppen nach Xu schickst, werden sie ihn dort verstecken, wo du ihn nie finden wirst.«
Plötzlich verstand Shei-Luin. Xu würde eine Geisel sein wie sein Vater. Aber Xu würde keinen freundlichen Gegner haben wie Yesuin. Sobald sie Jhanun angriff, würde ihr Sohn sterben.
»Töte ihn!« schrie sie.
Das Messer blitzte über dem bleichem Hals, und Blut schoß heraus. Mit ungläubig weit aufgerissenen Augen sackte Baisha auf dem Boden zusammen wie eine aufgestochene Blase. Murohshei wischte die Klinge an Baishas Gewand ab und steckte sie wieder in den Ärmel.
Shei-Luins Maske der Ruhe zerbrach wie dünnes Eis unter einem festen Schlag. Voller Angst um ihr Kind vergaß sie einen Augenblick lang die Zeit. »Hol Yesuin. Sag ihm – Phönix hilf mir, ich habe es vergessen«, sagte sie und sank verzweifelt auf die Knie. »Er ist nicht mehr hier. Murohshei … Murohshei … was soll ich tun? Mein Kind; sie haben mein …« Sie weinte, wie sie in Jahren nicht geweint hatte, ihr Herz erstarrt vom Kummer einer Mutter.
»Herrin«, sagte er, »wir können nur weitermachen.«
Der Tempel und alles ringsumher gehörte ihnen. Sie hatten Patrouillen ausgeschickt und suchten nach geflohenen Priestern, als sie unirdisch schöne Laute hörten.
Amura und seine Männer folgten dem Gesang. Niemals hatten sie eine solche Stimme gehört. Sie füllte Amuras Herz, bis er glaubte, weinen zu müssen; solcher Glanz war mehr, als ein Sterblicher hören sollte.
Die Morgendämmerung war längst vorüber, aber die Stimme erhob sich nun zu dem Solo des Liedes. Amura hatte es ein paarmal gehört, als er früh am Morgen im Tempel zu tun gehabt hatte; nie war das Lied mit solcher Schönheit oder solcher Macht erklungen. Er führte seine Männer an einem Felsen vorbei und blieb erstaunt stehen, denn der Sänger war Hodai.
Aha – die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Durch ein Wunder – oder Magie – hatte das Orakel des alten Nira seine Stimme gefunden. Und was für eine Stimme!
Der Junge stand nah am Rand des Steilhangs, hatte sich ihnen und dem Osten zugewandt, die Hände an die magere Brust gedrückt. Er schien die Männer nicht zu sehen, während er sang. Die uralten Worte flossen wie Gold von seinen Lippen und erhoben sich zu einem triumphierenden Lobgesang. Dies war die Krönung des Liedes. Dies war herzzerreißende Schönheit.
Aber beim letzten Ton zerbrach die kristallene Reinheit von Hodais Stimme. Amura schrie auf. Das Schwert fiel ihm aus plötzlich reglosen Händen, und er hielt sich die Ohren vor dem schrecklichen Verrat
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