Drachenruf
dem nicht gerade sauberen Hals.
Andere Jungen und einige Gesellen wanderten über den Hof zum Speisesaal. »Spitzbub«, hatte Meister Shonagar Piemur genannt, und Menolly musste ihm recht geben, denn in den Augen des Kleinen blitzte trotz des kläglichen Tonfalls der Schalk.
»Du hast wohl mit Ranly gewettet?«
»Gewettet?« Piemur schaute sie fragend an. Dann kicherte er. »Wenn einer so mickrig ist wie ich, Menolly dann muss er sehen, dass er den Großen immer eine Nasenlänge voraus bleibt, sonst verspotten sie einen im Schlafsaal.«
»Und was hast du Ranly erzählt?«
»Dass du mich ganz sicher beim Füttern der Echsen helfen lässt, weil sie mich längst mögen. Das stimmt doch, oder?«
»Du bist wirklich ein Spitzbub!«
Piemurs Grinsen verwandelte sich in eine genau berechnete, schuldbewusste Grimasse.
»Ich habe schon Camo am Hals, der keine Ruhe gibt, bis er sie füttern darf...«
»›Schöne kleine Drachen«‹, ahmte Piemur den Knecht perfekt nach, »›schöne Drachen füttern!‹ Keine Angst, Menolly! Camo und ich sind Freunde. Er hat sicher nichts dagegen, wenn ich dir helfe.«
Als ob damit alles geregelt sei, zog Piemur Menolly die Stufen hinauf. »He, du willst doch nicht schon wieder zu spät zum Essen kommen!«, sagte er und eilte zum Speisesaal.
»Menolly!«
Die beiden blieben stehen, als sie die Stimme des Meisterharfners hörten.
Robinton kam aus dem Obergeschoss.
»Wie war der Tag für dich, Menolly? Du hast Domick, Morshai
und Shonagar kennengelernt, nicht wahr? Mit Sebell muss ich dich noch bekannt machen - und zwar möglichst bald, ehe die Eier reif sind!« Der Meisterharfner lächelte. Man merkte ihm an, dass er das Ereignis mit Sehnsucht erwartete. »Und der kleine Schurke da hat sich auch schon an deine Fersen geheftet! Na, vielleicht bewahrst du ihn vor ein paar dummen Streichen. Oh, Brudegan, auf ein Wort vor dem Abendessen...«
»Rasch...« Piemur nahm sie am Arm und drängelte sie in den Speisesaal. Menolly gewann den Eindruck, dass sowohl Robinton wie auch Piemur ihr die Begegnung mit Brudegan ersparen wollten; ihn hatten ihre Echsen am Morgen beim Unterricht gestört. »Sebell ist ein netter Kerl«, fügte Piemur so beiläufig hinzu, dass Menolly das Gefühl bekam, sich getäuscht zu haben.
»Er soll das zweite Ei bekommen.«
Piemur pfiff durch die Zähne. »Echt? Der hat doch eben erst den Tisch gewechselt?«
»Den Tisch gewechselt?« Menolly sah ihn verwirrt an. »Das sagt man so bei uns, wenn einer befördert wird. Die Zeremonie findet nämlich während des Abendessens statt. Da tritt dann beispielsweise ein Geselle vor den auserwählten Lehrling und führt ihn feierlich an seinen neuen Platz.« Er deutete von den lang gestreckten Lehrlingstischen zu den ovalen Tafeln der Gesellen am anderen Ende des Speisesaals. »Und ein Meister geleitet den erfolgreichen Gesellen in die Runde der Meister. Aber das kann bei mir noch eine Weile dauern«, meinte er mit einem Seufzer. »Wenn es je geschieht...«
»Wie? Werden denn nicht alle Lehrlinge eines Tages Gesellen?«
»Nein«, erwiderte der Junge und schnitt eine Grimasse. »Einige schickt man wieder heim, weil man sie nicht brauchen kann. Andere bleiben hier und kriegen langweilige Aufgaben als Helfer von Gesellen oder Meistern. Oder man schickt sie in eine kleinere Gildehalle.«
Vielleicht war es das, was der Meisterharfner mit ihr beabsichtigte: Sie sollte einem Gesellen oder Meister in einer Burg oder Gildehalle zur Seite stehen. Das erschien zwar logisch, aber Menolly seufzte wie vorher Piemur.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte sie. Ihr Begleiter sah aus wie ein schwächliches Kind von neun oder zehn Planetenumläufen - in diesem Alter holte man die Begabten meist in die Gildehallen. Seinen Worten nach zu schließen, befand er sich jedoch schon lange hier.
»Man nahm mich vor zwei Planetenumläufen als Lehrling auf«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Früher als die meisten anderen - wegen meiner Stimme.« Er sagte das ohne eine Spur von Eitelkeit. »Pass auf, du musst jetzt rüber an den Mädchentisch. Und lass dir nichts gefallen! Du stehst im Rang über ihnen!«
Ohne diese Worte näher zu erläutern, huschte er zwischen den Tischen durch. Menolly bemühte sich, nicht zu humpeln, als sie an ihren Platz ging. Sie straffte die Schultern und bewegte sich sehr langsam, um ihre Schmerzen zu verbergen. Sie bemerkte die offenen und verstohlenen Blicke der Lehrlinge in ihrem Rücken. Vielleicht war es gut,
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