Drachenspiele - Roman
verbrachte; das sich nach einem Vater sehnte und nach einem groÃen Bruder; das ein jahrelanges Schweigen ertrug und viel zu tapfer sein musste für sein Alter.
Alles wegen ein paar Büchern, versteckt unter dem KüchenfuÃboden! Weil ihr Vater Konfuzius gelesen hatte! Zweitausend Jahre alte Schriften, die heute wieder in der Schule gelehrt wurden. Weil ein vierzehnjähriger Junge unachtsam, vorlaut oder ein Wichtigtuer gewesen war?
Sie hatte das Gefühl, als blicke sie auf ihr Leben wie auf
ein groÃes Puzzle, in dem wichtige Teile fehlten. Eines davon hielt sie jetzt in den Händen. Wenn sie es einfügte, würde ein anderes Bild entstehen, sich vieles erklären, ohne deshalb einen Sinn zu ergeben.
Der Schmerz ihrer Mutter. Galt er nicht dem verschollenen Sohn, sondern dem Verräter? Vielleicht hatte sie dafür gesorgt, dass er aufs Land geschickt wurde, damit sie mit ihrer Tochter, aber ohne ihn, nach Hongkong entkommen konnte. Waren sie nicht vor den Kommunisten, sondern vor der eigenen Familie geflohen? So viele Fragen, auf die sie nie Antworten bekommen würde. Blinde Flecken, in denen sich ihr Leben entwickelt hatte.
Wie nah waren sich Mutter und Tochter gewesen? Warum hatte sie es nie über sich gebracht, ihren Kummer zu teilen? Ãber zwanzig Jahre hatten sie zusammengelebt und wussten doch so wenig voneinander.
»Es tut mir leid«, sagte Yin-Yin, rutschte näher und legte einen Arm um ihre Tante. »Ich dachte, du wüsstest â¦Â«
»Hast du den Brief bei dir?«
»Ja.«
»Darf ich ihn lesen?«
Yin-Yin zögerte.
»Bitte.«
Sie holte den Umschlag aus ihrer Handtasche und gab ihn ihr. Christine öffnete das Kuvert. Eine vage Hoffnung beschlich sie. Vielleicht hatte er auch an seine Schwester gedacht. Nicht viel, ein paar Sätze, ach was, wenige Worte könnten genügen. Behutsam entfaltete sie das Schreiben und las. Kein Wort über sie. Keine Zeile zu ihrer Mutter. Warum bat er seine Kinder um Verständnis und Nachsicht, aber nicht die, deren Leben er eine so folgenschwere Wendung gegeben hatte? Ohne seinen Verrat wäre ihr Vater am Leben geblieben
und sie nicht in den traurigen Resten einer Familie aufgewachsen.
»Wo ist mein Brief?«, fragte sie fast trotzig. »Wo ist der an meine Mutter?«
Yin-Yin steckte den Umschlag wieder ein. »Es gibt ⦠er hat ⦠du darfst nicht vergessen, in welcher Situation er ihn geschrieben â¦Â«
»Du brauchst deinen Vater nicht zu verteidigen«, unterbrach Christine. »Er hatte viele Jahre Zeit, den Brief an uns zu schreiben.« Sie wollte sich nicht streiten und fühlte, dass jedes weitere Wort sie nur wütender machen würde. Stattdessen breitete sich eine tiefe Traurigkeit in ihr aus. In wessen Liebe hatte sie bisher Schutz gefunden?
»Weià Paul davon?«, fragte sie nach einer langen Pause.
»Ja. Xiao Hu hat es ihm in Shanghai erzählt.«
Sie stiegen in Central aus und liefen wortlos zu den Fährterminals. Christine war froh, dass Yin-Yin keine Fragen mehr stellte. Sie wollte sich nicht erklären müssen. Warum hatte Paul ihr nichts gesagt? Sie nahm an, dass er sie schützen wollte.
Am Pier verabschiedeten sie sich mit einer kurzen Umarmung, Christine sah ihre Nichte über die schaukelnde Gangway laufen, Kopfhörer im Ohr. Wie hatte sie sich in den Wochen seit ihrer ersten Begegnung verändert. Chinajahre, dachte sie. Jetzt hatte auch sie Chinajahre gelebt. Sie winkte kurz und blickte dem Boot nach, bis es hinter dem Anleger verschwunden war.
Sie hasste es, Menschen zu verabschieden, ob an der Fähre, am Bahnhof oder im Flughafen. Die Einsamkeit der Zurückbleibenden, die Leere, die plötzliche Stille, die einen umgibt, und aus der man sich nur schwer befreien kann. Christine setzte sich auf die Stufen, die zum Anleger führten,
und holte ihr Handy hervor. Sie musste Pauls Stimme hören, ein paar Worte würden genügen.
»Erzähl mir etwas«, bat sie.
»Was ist passiert?«, fragte er besorgt.
»Nichts.« Sie verschluckte ihre Tränen. Es war nicht der richtige Moment.
»Du klingst nicht gut.«
»Erzähl mir einfach etwas«, wiederholte sie müde. »Ich brauche deine Stimme.«
»Ich liebe dich.«
»Mehr.«
»Du bist das Herz meines Glücks. Du bist meine Rose, meine Liebe. Du bist alles, was ich habe. Noch mehr?«
»Ja.«
»Du bist
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