Geliebter Rebell
Kapitel 1
»Unglaublich. Exquisit. Brillant. Nun?« Geoffrey Säble hob die Brauen und beobachtete gespannt das Gesicht seiner Assistentin. Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau, elegant und modisch gekleidet, eine tüchtige, charmante Blondine mit unschuldigen Augen. Diese blauen Augen leuchteten wie der Himmel, groß und klar, und sie bildeten einen verwirrenden Kontrast zu den schwarzen Wimpern.
»Interessant«, erwiderte sie langsam und studierte die Leinwand. »Interessant.«
»Mehr hast du nicht zu sagen?«
Zögernd betrachtete Gayle Norman das riesige Ölgemälde an der weißen Wand. Vor Ehrfurcht erschauerte sie beinahe.
Trotzdem wollte sie aus irgendwelchen Gründen das offensichtliche, seltene Talent, das aus diesem Werk sprach, nicht anerkennen. »Nun ja…« murmelte sie.
»Ach, komm schon, Gayle!« rief Geoffrey unwillig. Er war der Besitzer der renommierten Sable-Galerie in Richmond, Virginia, seit vier Jahren ihr Chef und noch viel länger eng mit ihr befreundet. Sie kannten sich sehr gut. Fast konnte einer die Gedanken des anderen lesen. »Gayle!« drängte er ungeduldig. »Du hast ein unfehlbares Gespür für Begabungen.
Und wie du weißt, mussten wir eine Ewigkeit warten, um endlich wieder eine so faszinierende Kunst zu sehen.«
Faszinierend…
Vielleicht traf dieses Wort zu.
Erotisch,
hatte sie zunächst gedacht. Doch dieser Ausdruck war wohl zu krass, denn die gedämpften Farben, die Körperhaltung und die mystische Schönheit der Figuren strahlten etwas aus, das über Erotik hinausging. Ein Mann und eine Frau umarmten sich. Und Gayle fühlte die Kraft der Emotionen zwischen den beiden, die intensive Liebe des Mannes, seine Entschlossenheit, die Frau zu beschützen – und ihr rückhaltloses Vertrauen zu ihm, die Zufriedenheit, mit der sie sich an ihn schmiegte. Am Rand des Bildes verblassten die zarten Farben zu nebelhaftem Grau.
Ja, es war schön, und es erfüllte Gayle mit schmerzlicher Sehnsucht. Sie wollte geliebt werden wie die Frau auf diesem Gemälde, das ihr die eigene Einsamkeit deutlich vor Augen führte. Doch sie wünschte keine Beziehung zu einem Mann.
Außerdem drückte das Werk viel mehr aus als eine schlichte Beziehung, nämlich tiefe Liebe, Zärtlichkeit und totale Hingabe. So etwas lernte man nur ein einziges Mal im Leben kennen, und auch dann nur, wenn man Glück hatte.
Rasch trat sie zurück, wandte sich von dem Bild ab und begutachtete die anderen Werke an den Wänden lauter nackte Gestalten.
In der Kunstschule hatte sie stundenlang nackte Körper skizziert – schlanke, rundliche, muskulöse, sogar schöne Körper.
Sie hatte Rubens und Botticelli studiert, den Louvre und die meisten großen Kunstmuseen in aller Welt besucht.
Aber solche nackten Gestalten sah sie zum erstenmal. Sie schienen aus den Leinwänden zu greifen, die Sinne des Betrachters zu berühren.
Faszinierend –
dieses Wort genügte nicht, um die Gefühle zu beschreiben, die diese Gemälde weckten.
Doch sie wusste nicht, was sie noch hinzufügen sollte.
»Du hast recht, Geoffrey«, sagte sie schließlich. »Einfach wundervoll. McCauley ist wirklich hoch begabt.«
Er nickte und musterte mit sichtlicher Genugtuung eines der Bilder. »Wurden alle Einladungskarten beantwortet?«
»Jede einzelne.«
»Und?«
»Morgen Abend werden zweihundert Leute durch die Galerie wandern – ein sehr illustres Publikum.«
»Gut«, erwiderte er hoch erfreut. Sein attraktives Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das seinen würdevollen dreiteiligen Anzug Lügen strafte. Warum auch nicht, dachte Gayle voller Zuneigung. Geoff ist mit Recht stolz auf sich, nachdem er seine McCauley Ausstellung zustande gebracht hat…
Man behauptete, McCauley sei ein Einsiedler. Sein erstes Werk war vor über zehn Jahren in Paris verkauft worden, zu einem ungeheuerlichen Preis. Seit damals weigerte er sich, Interviews zu geben. Niemals trat er persönlich in Erscheinung. Gayle stellte sich den Maler als alten Mann vor, mit gebeugten Schultern und einem Bart bis zu den Knien, als schmuddeligen Typen, der ächzte und hustete, während er vollendete Schönheit auf die Leinwand bannte.
Sie konnte nicht verhindern, dass sie dem Künstler gegenüber eine ablehnende Haltung einnahm. Die Organisation der Ausstellung war eine Qual gewesen. Er wollte nicht einmal mit ihr reden. Alle Arrangements hatte sie zusammen mit seinem Manager getroffen, einem gewissen Chad Bellows, der zwar charmant und sympathisch war – aber eben nicht
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