Drachenwacht: Roman (German Edition)
schmeckte er die dahinter verborgene Abscheulichkeit auf der Zunge. Er setzte sich und schlug sich die Hand vor den Mund und er spürte, dass sein Gesicht nass war. Eine kurze Zeit lang war er seiner Stimme nicht mehr
mächtig und kämpfte damit, sich wieder zu fassen. Schließlich sagte er heiser zu Tharkay: »Wenn du mir nicht helfen willst, was machst du denn dann?«
Diese Frage war nicht buchstäblich gemeint, und Tharkay verstand sie auch nicht so. In seiner zurückhaltenden Art machte er nur eine kurze Handbewegung. »Es gibt genug zu tun auf der Welt«, antwortete er, »und wenig genug Zeit.«
»Und niemandem außer dir selbst steht die Entscheidung zu«, sagte Laurence. »Du bist keiner Autorität außer deinem Gewissen unterworfen.«
»Es gibt genügend Autoritäten zur Auswahl«, sagte Tharkay, »um jede Handlung zu rechtfertigen. Ich ziehe es vor, diese Wahlmöglichkeiten ein bisschen einzuschränken.«
Laurence kam das wie die elendigste, einsamste Existenz vor, die er sich nur vorstellen konnte; isoliert durch mehr als nur durch Anderssein oder Verachtung. »Wie kannst du das ertragen? Die Wahl und alle daraus resultierenden Konsequenzen, allein …«
»Vielleicht habe ich mich durch die Gewohnheit damit abgefunden«, sagte Tharkay trocken, »oder vielleicht neige ich von Natur aus einfach weniger dazu, mich für alle Sünden der Welt verantwortlich zu fühlen, anstatt mich um meine eigenen zu kümmern.«
Laurence bedeckte einen Moment lang sein Gesicht mit den Händen und schloss seine Augen vor dem abgeschirmten, rötlichen Licht. Der Heubodenduft nach Stroh und den verschwundenen Pferden, warm und vertraut, mischte sich mit dem schweflig stechenden Geruch der Drachen von draußen. Holzfeuer war zu riechen, und Arkadys Geprahle drang an ihre Ohren, hin und wieder unterbrochen von der tieferen Stimme Temeraires, der Einwände erhob.
»Nun gut«, sagte er und ging nach draußen; die Befehle ließ er auf dem Tisch liegen.
15
»Verzeih mir«, sagte Laurence. Temeraire hatte sich für die Nacht vorbereitet. Dazu hatte er sich gemütlich hinter einer Scheune auf einem alten, sauber gepflügten Feld zusammengerollt, das nun brachlag. Unter dem Schnee befand sich weiches, vertrocknetes Gras. Sie waren alleine, jedenfalls beinahe. Demane und Sipho, Roland und Allen hatten sich in die Beuge von Temeraires Hinterhand geschmiegt. Demane und Roland hatten aus einem Zelt und einigen Stöcken ein kleines, schräges Dach gefertigt und es an Temeraires Flanke befestigt, denn es war wärmer, an seiner Seite zu nächtigen als allein im Zelt. Aber alle vier schliefen fest. Schließlich hatte Arkady doch noch aufgehört, seine Geschichten zum Besten zu geben, und war eilig zu Iskierka gerutscht, um in den Genuss der Hitze zu kommen, die sie ausstrahlte. Temeraire hatte kurz verächtlich geschnaubt und dann seinen eigenen Schwanz um die Schräge geschlungen, um ganz sicherzugehen, dass seine Mannschaft warm und trocken ruhen konnte.
Er hatte nicht sofort verstanden, wofür sich Laurence entschuldigte, bis der es ihm ein wenig erklärte. »Verzeih mir«, wiederholte Laurence. »Es ist schlimm genug, dass ich mich selbst dafür hergegeben habe. Aber dass ich euch in gleicher Weise mit hineingezogen habe, ist unentschuldbar …«
»Aber Laurence«, sagte Temeraire, zugleich froh und verblüfft, »es war doch mit Sicherheit mein Fehler. Ich hatte zuerst die Idee, dass wir nach Frankreich fliegen sollten. Ich habe nicht gewusst, dass sie dir dein Kapital und deinen Rang wegnehmen würden, und es tut mir leid …«
»Mir nicht«, unterbrach ihn Laurence. »Ich würde mich von mehr
als nur dem trennen und finde das einen geringen Preis für mein Gewissen. Ich schäme mich, dass ich mich so weit in Verzweiflung habe versinken lassen, dass ich an keine Alternative mehr denken konnte.«
Temeraire wollte keinesfalls streiten. Laurence klang endlich wieder wie er selbst, wenn auch noch immer schmerzlich berührt und vielleicht auch unglücklich, und das war alles wert. Aber im Stillen kam er nicht gegen gewisse Zweifel an, dass ein Gewissen so kostspielig sein sollte und dann noch nicht mal etwas Konkretes war, das man bewundern und den anderen zeigen konnte.
»Aber«, sagte er heroisch, »ich meinte das, was ich über die Krallenscheiden gesagt habe, ehrlich, mein lieber Laurence, und will wirklich noch immer, dass du sie verkaufst und stattdessen etwas für dich selber erstehst. Ich möchte ebenfalls mein Gewissen
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