Drachenwächter - Die Prophezeiung
wanderte an den Bäumen vorbei hinauf zu den Koan-Bergen. Nun war es nicht mehr zu sehen, das Drachenfeuer. Nachts hatte man beobachten können, wie die Drachen ihr Feuer hinauf zum Himmel bliesen, und stand der Wind günstig, war manchmal sogar ihr majestätisches Gebrüll zu hören.
Doch diese Nacht war still, kalt und einsam. Die Koan-Berge waren nicht mehr die Heimat der Drachen, sondern nur noch die letzte Hürde für die Dämonen, bevor sie ihren Schrecken in Derod verbreiten konnten.
Seld fragte sich, wie es wohl im Ödland hinter den Bergen aussah. Diejenigen, die sich in Richtung des Ödlandes aufgemacht hatten, waren niemals zurückgekehrt. Ob sie auf den Höhen der Koan-Berge erfroren oder im Ödland von den Dämonen getötet worden waren – niemand wusste es.
Die Berge ... ihre Höhlen ... ein Schaudern durchlief Seld, als er sich erinnerte, wie er einstmals in eine Drachenhöhle gestürmt war. Mit wütenden Schreien war er durch die Dunkelheit geirrt, auf der Suche nach Alema. Zu jenem Zeitpunkt war er nicht mehr bei Sinnen gewesen, und als er Alema nicht fand, wollte er hinaus ins Ödland gehen, um für immer Derod den Rücken zu kehren.
Zwei Tage später hatte ihn eine dreiköpfige Gruppe aus Hequis gefunden, die von Ark angeführt worden war. Seld hatte auf den grauen Steinen gelegen und war halb verhungert und fast erfroren gewesen. Sie hatten ihn zurück nach Hequis gebracht und ihn gesund gepflegt. Kaum hatte er wieder stehen können, hatte er sich aus dem Dorf davon gestohlen, damit seine Rachegedanken ihn keine Untaten an den Hequisern verüben ließen, die seine Frau in die Drachenhöhle gestürzt hatten.
All dies war nun viele Jahre her, doch die dunklen Erinnerungen aus dieser Zeit drängten sich immer wieder in sein Bewusstsein – er hatte den Hequisern vergeben, die von Talut Bas’ Lügen verblendet gewesen waren, doch konnte er nicht vergessen, was mit Alema geschehen war.
Seld stellte sich vor den Baum, holte mit der Axt aus –
Dunkelheit umgab ihn.
Seld war in einer Drachenhöhle in den Koan-Bergen. Ein Grollen hinter ihm – Seld wirbelte herum. Zwei glühende Augen blickten auf ihn herab.
Er wollte seine Stimme erheben, um die Wesenheit anzubrüllen, warum er diese Geistesreisen hatte, als schon eine Stimme durch seinen Kopf hallte:
Folge uns. Wir brauchen einander.
Kräftige Hände schüttelten Seld. »Was ist mit ihm? Lebt er noch?«
Seld kam langsam wieder zu sich. Kälte drang durch die Kleidung, als Leben in seinen Körper zurückkehrte, und er bemerkte, dass er rücklings auf dem Boden lag. Über sich sah er die winzigen Lichter der Sterne, der bitterkalte Nachtwind fuhr ihm durchs Haar, und er vernahm das leise Gemurmel von Stimmen.
Besorgte Blicke lagen auf ihm.
Mit zitternden Ellenbogen stemmte sich Seld auf. Die Mitglieder des Rats von Hequis standen um ihn herum. Als Seld sich aufrichten wollte, zogen ihn helfende Hände in die Höhe.
»Sie haben dich entdeckt, bevor ich es verhindern konnte«, flüsterte jemand in sein Ohr. Es war Ark.
Seld nickte. »Während dieser Geistesreise muss ich besonders lange nicht bei mir gewesen sein. Sie werden immer stärker«, sagte er ebenso leise. Dann räusperte er sich und sagte: »Versammeln wir uns.«
Die sechs anderen Mitglieder des Rats zögerten kurz, dann gingen sie in Richtung des Steinkreises. Ark und Seld sammelten das herumliegende Holz ein und folgten den anderen. »Du musst ihnen von den Geistesreisen erzählen«, sagte Ark.
»Ja, das werde ich.«
»Was hast du gesehen?«
»Die Drachen ... sie haben zu mir gesprochen. Ich soll ihnen folgen.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie kamen am Steinkreis an.
Die sechs anderen Ratsmitglieder hatten sich inzwischen um die Feuerstelle herum niedergelassen. Ark nahm seinen Platz ein, und Seld kniete sich neben die Feuerstelle.
Die Ratsmitglieder verfolgten stumm, wie Seld das Holz auf den Boden legte und das rituelle Feuer vorbereitete, indem er jeden einzelnen Zweig in der Mitte entzweibrach und die Stücke danach aufschichtete. Dabei kreisten seine Gedanken um die Frage, wie er dem Rat erklären konnte, was es mit den Geistesreisen auf sich hatte. Konnte er ihnen sagen, dass die ersten dieser Träume ihn schon überkommen hatten, als er unterhalb eines eisigen Gipfels der Wimor-Berge im Norden Derods in einer Höhle gehaust hatte, nachdem er aus Hequis geflohen war – das lag nun schon mehr als zehn Jahre zurück. Würden sie darin Zeichen des
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