Drachenwege
Rascheln hinter ihr zufiel.
»Hat Meister Zist dich hierher gebracht?«, fragte er.
Nuella winkte ab. »Nein, ich bin allein gekommen.«
»Ist das nicht gefährlich? Und wenn dich jemand gesehen hat?«
»Na ja, dann hätte man mich unterwegs angesprochen, nicht wahr?«, erwiderte sie ungeduldig. »Da mich auf meinem Weg zum Schuppen keine Seele gegrüßt hat, kam mir wohl niemand nahe genug, um Verdacht zu schöpfen.« Sie zog sich die Kapuze vom Kopf. »Bei diesem Wetter fällt es ohnehin niemandem auf, wenn ich von Kopf bis Fuß in einen Umhang gehüllt bin.«
Nuella hatte Recht. Dieser Winter war bitterkalt und noch lange nicht zu Ende.
»Irgendwann muss es ja wieder Frühling werden«, bemerkte Kindan.
»Genau! Und wie sind wir dafür gerüstet?«
Kindan war verblüfft über ihre heftige Reaktion.
»Seit einem Monat warten wir hier, und bis jetzt hat sich noch nichts getan«, fuhr sie fort. »Und wie du richtig sagst, kommt eines Tages der Frühling. Was wird dann aus diesen Leuten, um deren Wohlergehen sich Lord M'tal sorgte? Die durch die Schneeschmelze im Frühjahr von der Außenwelt abgeschnitten sind?« Sie bemühte sich, ihre Empörung zu zügeln. »Und ich hatte gedacht, ich könnte helfen.«
Sie legte eine Pause ein. »Nichts ist passiert. Ich habe keine Ahnung, wie ich von Nutzen sein könnte.«
»Das darfst du nicht sagen, Nuella«, beschwichtigte Kindan das aufgeregte Mädchen. Kisk zirpte tröstend und watschelte zu Nuella hin, um den massigen Kopf an ihrer Schulter zu reiben. »Ohne dich hätte Kisk höchstens die Hälfte von dem gelernt, was sie mittlerweile kann. Du hast wertvolles Wissen beigesteuert, Nuella. Bald gehen wir in die Grube, wo Kisk richtig zum Einsatz kommt.«
Nuella schnaubte verächtlich durch die Nase und unterbrach seinen Redeschwall. »Sicher, du gehst in die Mine, aber was wird aus mir? Womit soll ich mich dann beschäftigen? Heißt es dann, >Dankeschön, Nuella, du hast uns sehr geholfen, aber jetzt kannst du wieder in dein Zimmer zurückgehen und dich verstecken. Pass ja auf, dass dich keiner entdeckt! <« Beim letzten Wort klang ihre Stimme erstickt. Sie hockte sich ins Stroh und legte den Kopf auf die angewinkelten Knie.
Kindan wusste nicht, was er sagen sollte, und eine Zeit lang herrschte ein betretenes Schweigen. Endlich öffnete er den Mund, um irgendetwas zu sagen. Er sah, dass Nuella die Hand hob und den Kopf in die Richtung neigte, in der sich die mit einem Vorhang geschützte Tür befand.
»Wer immer du bist, komm ruhig rein«, rief sie mit lauter Stimme. »Du hast ohnehin schon zu viel gehört, jetzt darfst du auch noch den Rest erfahren.«
Nach einer kurzen Weile raschelte der Vorhang, und eine schmächtige Gestalt erschien im Dämmerlicht des Schuppens.
»Du siehst ja aus wie Dalor!«, platzte die unverhoffte Besucherin heraus. Es war Renna.
Nuella schnupperte mit bebenden Nasenflügeln, prüfte den Duft, der von dem Mädchen ausging und nickte zufrieden. »Du musst Zenors Schwester sein«, sagte sie.
»Er riecht genauso wie du.«
»Es ist Renna«, bestätigte Kindan. Sein Blick huschte zwischen den beiden Mädchen hin und her. »Sag mal, solltest du nicht am Ausguck Wache halten?«
»Doch, ja, ich war für diese Stunde eingeteilt«, bestätigte Renna. »Aber ich habe mit Jori getauscht.« Sie sah Nuella an. »Zufällig bekam ich mit, wie jemand die Festung verließ, und ...«
»Und du folgtest mir, weil du mich für Dalor hieltest, nicht wahr?«
Renna errötete bis unter die Haarwurzeln, und Kindan wusste, dass Nuella mitten ins Schwarze getroffen hatte. Er erinnerte sich, dass Nuella einmal Dalor dazu gebracht hatte, Kindan und sie in die Mine zu schmuggeln, indem sie ihm androhte, allen zu verraten, für welches Mädchen aus dem Camp er heimlich schwärmte. Damals sagte sie ihm auf den Kopf zu, sie wüsste, in wen er verknallt sei. Und nach Rennas Reaktion zu urteilen, beruhte dieses romantische Gefühl auf Gegenseitigkeit.
Plötzlich reckte Kisk den Hals, zirpte und stieß Kindan mit dem Kopf an. Der Junge schloss die Augen und konzentrierte sich; mittlerweile war er es gewöhnt, dass Kisk sich ihm in gedanklichen Bildern mitteilte.
»Es sind J'lantir und Lolanth«, verkündete Kindan gleich darauf. Kisk flötete eine melodiöse Tonfolge.
Abermals kniff er die Augen zu und öffnete seinen Geist für die Bilder, die der Wachwher ihm übermitteln wollte.
In seinem Kopf formten sich in rascher Folge Visionen. Er sah Regenbogenfarben,
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