Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Einzelheit erinnern, und ich benötige stets einige Minuten, um mir darüber
klar zu werden, dass es nicht die Wirklichkeit war. Manches Mal sind meine Träume alberne, süße und verworrene Hirngespinste,
in die ich verschiedene kleine |39| Abschnitte des Tages verwebe. Manchmal sind es Albträume, die meine Ängste auf fürchterliche Weise zum Ausdruck bringen. Gelegentlich
stellen sie sich auch als Vorzeichen heraus, die mir bedeuten, was die Zukunft für mich bereithält.
In jener Nacht träumte ich, ich wäre wieder in meiner Schlafkammer in der Schule. Nur schien es nicht die Schule zu sein,
wo ich gearbeitet und gewohnt habe, sondern ein Ort, den ich nicht erkannte. Mitten in der Nacht ging ich im gleißenden Mondlicht
einen langen, kalten Gang entlang und suchte etwas, wusste aber nicht, was es war. Draußen fegte ein grausamer Wind durch
die Baumwipfel, ließ die Dachbalken des Gebäudes ächzen und stöhnen, und das Mondlicht warf furchterregende Schatten auf die
Mauern. Unter meinen nackten Füßen fühlten sich die Fußbodendielen eisig an, und ich zitterte in meinem dünnen Nachtkleid
vor Kälte. Ich wollte in die Wärme und Sicherheit meines Bettes zurückkehren, vermochte dies aber nicht. Ich konnte nur vorwärts
gehen, Schritt für Schritt, als würde ich von einer Macht gezogen, die ich nicht benennen konnte.
Da ertönte plötzlich aus der Dunkelheit eine tiefe, sanfte Stimme: »Meine Geliebte!«
Rief da Jonathan nach mir? War er endlich gekommen? »Wo bist du, Jonathan?«, schrie ich, während ich, an vielen verschlossenen
Türen vorbei, den langen, endlos verschlungenen Korridor entlanghastete.
Da hörte ich es wieder. »Meine Geliebte!«
Plötzlich wurde mir klar, dass es keineswegs Jonathan war, sondern dass ich diese Stimme noch niemals vernommen hatte. Atemlos
lief ich um eine Ecke, um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben, da unmittelbar vor mir eine Tür aufflog. Eine hoch aufgeschossene,
finstere Gestalt trat heraus. War es ein Mensch oder ein Untier? Ich wusste es nicht. In dem dunklen Gang vermochte ich die
Züge dieses Wesens nicht auszumachen. Ich sah nur zwei rotglühende Augen. Ihr Anblick ließ mich erschreckt nach Luft ringen.
|40| Er – oder es – näherte sich mir und blieb vor mir stehen, murmelte mit leiser Stimme Worte, die mir kalte Schauer über den
Rücken jagten und die doch gleichzeitig fesselnd und seltsam unwiderstehlich waren.
»Ich komme dich holen.«
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2
Mit wild pochendem Herzen fuhr ich aus dem Schlaf auf und hörte draußen immer noch den Sturm toben. Der Traum schien mir sehr
wirklich zu sein. Das Bild der dunklen, antlitzlosen Gestalt war noch lebhaft in meinen Gedanken. Wer war er … oder es? Warum
nannte er mich
meine Geliebte
? Warum kam er mich holen? Plötzlich wurden meine Gedankengänge unterbrochen. Ich hörte, wie sich im Raum etwas bewegte. Ich
riss ein Streichholz an und erblickte Lucy, die im Nachtgewand auf dem Bett saß und sich die Stiefel anzog. Ich zündete die
Lampe an und eilte zu ihr.
»Lucy, meine Liebe, du musst wieder zu Bett gehen.«
»Nein«, erwiderte sie und stieß mich heftig von sich. »Ich muss fort. Er kommt mich holen.«
Bange Vorahnung überfiel mich. Hatte ich nicht soeben just diese Worte in meinem Traum vernommen? »Wer kommt?«
»Ich muss fort!«, war ihre einzige Antwort, während sie begann, die Schnürsenkel zu binden.
Es war nicht einfach, Lucy davon zu überzeugen, dass ich ihr unter keinen Umständen erlauben würde, das Zimmer zu verlassen.
Sie wachte nicht auf, sondern warf sich nun die ganze Nacht hindurch unruhig auf ihrem Lager hin und her und stand gar noch
einmal auf, um sich anzukleiden. Wie seltsam, überlegte ich, nachdem es mir erneut gelungen war, sie zu Bett zu bringen, und
ich mich gerade zugedeckt hatte. War es denn möglich, dass Lucy und ich dasselbe geträumt hatten?
|41| »Ich erinnere mich nie an etwas, das ich geträumt habe«, sagte Lucy am nächsten Morgen mit einem Achselzucken, als ich mich
danach erkundigte. »Ich konnte sehr lange nicht einschlafen, aber dann schlief ich tief und fest.«
Ich gähnte herzhaft, weil die Ereignisse der Nacht mich erschöpft hatten. Da aber Lucy so strahlend und fröhlich aussah, als
sie die Fensterläden aufschlug, um die frühe Morgensonne ins Zimmer zu lassen, beschloss ich, die Vorkommnisse nicht weiter
zu erwähnen.
»Was für ein schrecklicher Sturm!«, fuhr Lucy fort. »Dem Himmel
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