Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
schaudert, wenn ich nur daran denke.«
Frau Westenra, die sich selbst nicht eben wohl fühlte, schlug Lucy vor, einen ruhigen Tag mit ihr zu verbringen, um ihre Nerven
zu besänftigen. »Du hast einen Schock erlitten, meine Liebe, das ist alles. In wenigen Tagen hast du das alles gewiss wieder
vergessen.«
Auch mich hatte der grausige Anblick des gestrandeten Schiffes aus der Fassung gebracht, doch ich hegte keineswegs die Absicht,
mir davon die Ferien verderben zu lassen oder deswegen den Tag im Hause eingesperrt zu verbringen. Obwohl sich im Laufe des
Morgens der Himmel wieder ein wenig zugezogen hatte, versprach der Tag doch schön zu |44| werden. Ich verspürte das starke Bedürfnis, zu unserer Lieblingsbank oben auf der Ostklippe zu gehen, um dort zu lesen und
zu schreiben. Rasch überprüfte ich noch im Spiegel mein Aussehen, strich den schlichten Rock und die Jacke aus amethystfarbenem
Piqué glatt, zupfte das Jabot meiner weißen Bluse zurecht und versicherte mich, dass mein braunes Haar ordentlich unter meinem
Strohhut verwahrt war. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass ich respektierlich aussah, nahm ich ein Buch und mein Tagebuch,
umarmte meine Feriengenossinnen zum Abschied und machte mich mit einem seltsamen Gefühl der Erwartung, das ich mir nicht erklären
konnte, auf den Weg.
Der Wind wehte kräftig, als ich den Kirchhof überquerte und an den Grabsteinen vorüberging, die der Regen der vergangenen
Nacht saubergewaschen hatte. Ich sog die Luft in tiefen Zügen ein, genoss den Duft von nassem Kies, Steinen, Erde und Gras.
Aus unerfindlichem Grund überkam mich nun schon zum zweiten Male an jenem Morgen das seltsame Gefühl, als beobachtete mich
jemand. Doch wiederum konnte ich, als ich mich umschaute, nichts Außergewöhnliches feststellen.
Wie üblich spazierten Menschen allen Alters und aller Schichten hier oben umher, plauderten und lachten. Wären die vielen
Pfützen nicht gewesen, die sich überall am Rand des Spazierwegs gebildet hatten, so hätte nichts darauf hingedeutet, dass
in der Nacht zuvor ein Unwetter gewütet hatte, ein Sturm, der ein Schiff mit einer Geisterbesatzung an den Strand warf.
Zu meiner Freude fand ich meine Lieblingsbank leer vor. Ich setzte mich hin und ergötzte mich an der Schönheit des Anblicks,
der sich tief unten bot. Das Sonnenlicht tanzte auf dem sich ständig verändernden tiefblauen Meer, und die Wellen krachten
mit hohen, schäumenden weißen Kämmen an den Strand, die Hafenmauern und auf die entfernte Landspitze. Ich dachte an Jonathan.
Ich betete, er möge in Sicherheit sein.
Als ich gerade meinen Füllfederhalter zur Hand nehmen wollte, um mit einem Tagebucheintrag zu beginnen, frischte |45| plötzlich ohne jede Vorwarnung der Wind auf und wehte mir den Hut vom Kopf. Gerade eben hatte mein Strohhut noch fest auf
meinem Haar gesessen, und nun flog er schon durch die Lüfte, schlug Purzelbäume und rollte in wilden Kreisen über den Spazierweg.
Bestürzt sprang ich auf und hastete hinter meiner entfliehenden Kopfbedeckung her. Trotz ernsthafter Bemühungen meinerseits,
den Hut wieder einzufangen, entzog er sich ärgerlicherweise immer um wenige Zentimeter meinem Griff. Er bewegte sich geradewegs
auf den gefährlichsten Abschnitt der Klippe zu, jenen Teil, an dem die Böschung abgebröckelt war und wo ganz weit unten einige
Grabsteine, die herabgestürzt waren, aus dem Sand herausragten. Wenige Schritte vom Rand der Klippe entfernt, hielt ich inne,
war mir nun sicher, meinen Hut für immer verloren zu haben. Denn in wenigen Augenblicken würde er über den Rand der Klippe
fliegen und im tiefen Meer sein Ende finden.
Plötzlich raste eine hoch aufgeschossene Gestalt an mir vorüber und packte meinen Hut, als der gerade hinuntersegeln wollte.
Nie zuvor hatte ich ein menschliches Wesen sich so rasch bewegen sehen. Doch dann kehrte derselbe Herr mit ruhigem Selbstbewusstsein
und der Eleganz eines Panters an meine Seite zurück und reichte mir seine Beute.
»Ist das Ihr Hut, Fräulein?«, erkundigte er sich mit sonorer Stimme, die ein kaum merklicher ausländischer Akzent noch interessanter
machte.
Ich starrte ihn an, plötzlich um Worte verlegen. Es war ein junger Herr, kaum älter als dreißig Jahre. Er war groß, schlank
und außerordentlich attraktiv, mit einer edlen Nase, vollkommenen weißen Zähnen und einem rabenschwarzen Schnurrbart, der
zu seinem Haar passte. Als er zu mir herunterlächelte,
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