Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
fesselte mich die Macht seiner dunkelblauen Augen, die gleichzeitig
durchdringend und unwiderstehlich waren. Er war makellos gekleidet, trug einen knielangen Gehrock, schwarze Krawatte, schwarze
Weste und Hose, dazu ein |46| schneeweißes Hemd. Seine Kleidung umhüllte perfekt seine edle Gestalt, und an den Stoffen und der feinen Verarbeitung war
sogleich zu sehen, dass er ein wohlhabender Mann sein musste. Sein Antlitz leuchtete vor Gesundheit. Seine Züge und seine
Gestalt waren wahrhaftig die Verkörperung all dessen, was man als männliche Schönheit bezeichnen mochte. Einen atemlosen Augenblick
lang fragte ich mich, ob ihn am Ende meine lebhafte Vorstellungskraft heraufbeschworen hatte.
Als sich unsere Blicke trafen, schaute er mich an, wie mich noch nie jemand angesehen hatte – nicht einmal Jonathan. In seinem
Blick lag ein Ausdruck so unmittelbaren, tiefsten und unverhohlenen Interesses, dass mein Herz aufgeregt schneller schlug.
»Vielen Dank, Sir«, sagte ich, als meine Stimme mir endlich wieder gehorchte. »Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
»Es freut mich, dass ich Ihnen zu Diensten sein konnte.« Sein kaum merklicher Akzent hatte wahrscheinlich seinen Ursprung
auf dem europäischen Festland, überlegte ich, aber sein Englisch war vollkommen. Er verneigte sich, lüpfte kurz den schwarzen
Zylinder, starrte mich aber nach wie vor unverwandt mit seinen faszinierenden Augen an.
Ich wusste, dass ich mich auf kein weiteres Gespräch mit ihm einlassen sollte. Er war ein Fremder und ich eine unverheiratete
Frau, die mit einem anderen verlobt und hier ohne Anstandsdame unterwegs war. Mir stand nur eine geziemende Handlungsweise
offen, das war mir wohl bewusst: Ich musste stumm knicksen und mich sogleich entfernen. Und doch … Ich brachte es nicht über
mich. Stattdessen betrachtete ich den Strohhut, den ich in Händen hielt, ein schlichtes, nur mit einem weißen Band und einem
Sträußchen verziertes Ding, und sagte: »Das war sehr mutig von Ihnen, Sir, dass Sie … dass Sie so nah an den Rand der Klippe
geeilt sind, nur um eines Hutes willen. Das war ziemlich gefährlich.«
Nun hatte wohl auch er sich wieder gefasst und schenkte mir ein warmes Lächeln. »Mir schien, dass Ihnen viel daran |47| lag, diesen Gegenstand zu retten. Die Gefahr habe ich gar nicht bedacht.«
Ihn umgab, überlegte ich, während ich einen weiteren verstohlenen Blick auf ihn warf, eine unerklärliche Aura der Gefahr.
Sie ließ ihn exotisch und geheimnisvoll zugleich erscheinen, hatte jedoch, wie ich mir sagte, nicht so sehr mit einem seiner
Charakterzüge zu tun, sondern eher damit, dass er so außerordentlich attraktiv war und ich kaum die Augen von ihm wenden mochte.
»Der Hut ist ja, wie Sie sehen können, keineswegs kostbar«, erwiderte ich, »aber ich habe ihn schon so lange, dass er mir
lieb und teuer geworden ist. Und er ist umso wertvoller, als es … als es der einzige ist, den ich mitgebracht habe.« Großer
Gott, überlegte ich, warum plappere ich wie eine Närrin von meinem Hut?
»Ah«, meinte er, als wir uns wieder dahin auf den Weg machten, wo ich hergekommen war, »dann darf ich daraus schließen, dass
Sie nicht immer in Whitby leben?«
»Nein. Ich bin erst vierzehn Tage hier. Ich mache hier Ferien mit einer Freundin und ihrer Mutter.«
»Ich weile auch zu Besuch. Ich bin erst gestern in Whitby angekommen.«
»Woher stammen Sie, Sir?«
Er blickte mich an und antwortete: »Aus Österreich.«
»Ich habe schon Bilder von Österreich gesehen, und allen Berichten zufolge ist es ein wunderschönes Land.«
»Das ist es wahrhaftig, aber dies ist auch ein reizendes Fleckchen Erde, nicht wahr? Von den Klippen aus hat man einen herrlichen
Ausblick. Das Meer ist so wunderbar, so ruhelos und so unendlich. Ich werde seines Anblicks nie müde. Derlei Panoramen haben
wir in meiner Heimat nicht.«
»Ich liebe das Meer schon immer und zu allen Jahreszeiten. Allerdings müssen Sie, wenn Sie erst gestern in Whitby eingetroffen
sind, das Unwetter der letzten Nacht als eine recht wilde Begrüßung empfunden haben.«
|48| »Der Sturm, ja, der war furchterregend.« Als wir an einem der Künstler vorüberspazierten, die an der Klippe standen und das
unten auf dem Strand zerschellte Schiff malten, blieb der Herr kurz stehen, um dessen Arbeit zu bewundern. »Sie haben eine
sehr interessante Perspektive gewählt«, sagte er zu dem Maler, »und Ihre Farbwahl ist außerordentlich angenehm
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