Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
auf den Bahnsteig setzte, noch viel weniger hatte ich eine unheimliche Vorahnung von
den unvorstellbaren Ereignissen, die uns erwarteten. Nichts deutete darauf hin, dass sich diesmal die Ferien am Meer von den
bisherigen Aufenthalten unterscheiden würden.
Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt. Ich hatte nach vier glücklichen Jahren soeben meine Stelle als Lehrerin aufgegeben,
um mich auf meine bevorstehende Heirat vorzubereiten. Obwohl ich höchst besorgt um meinen Verlobten Jonathan Harker war, der
noch nicht von einer Geschäftsreise nach Transsilvanien zurückgekehrt war, entzückte mich doch die Aussicht, die nächsten
ein, zwei Monate an einem wunderschönen Ort und mit meiner allerbesten Freundin zu verbringen und während dieser Zeit uneingeschränkt
mit ihr reden und Luftschlösser bauen zu können.
Ich erblickte Lucy, die mich auf dem Bahnsteig erwartete und in der Menschenmenge nach mir Ausschau hielt. Sie sah hübscher
aus denn je in ihrem Kleid aus weißem Batist. Ihre goldenen Locken lugten schüchtern unter ihrem eleganten |16| blumengeschmückten Hut hervor. Unsere Blicke trafen sich, und ihr Gesicht strahlte auf.
»Mina!«, rief Lucy, während wir aufeinander zueilten, um uns in die Arme zu fallen.
»Wie du mir gefehlt hast!«, erwiderte ich und drückte sie an mich. »Mir ist, als wäre ein ganzes Jahr vergangen, seit wir
uns zuletzt sahen, und nicht nur einige Monate. In der Zwischenzeit ist so vieles geschehen.«
»Mir geht es ebenso. Im letzten Frühjahr waren wir beide noch ledig. Und nun …«
»… sind wir beide verlobt!« Wir lächelten glücklich und umarmten einander erneut.
Lucy Westenra und ich waren seit jenem Tag beste Freundinnen, da wir uns in der Upton Hall School kennenlernten. Damals war
ich vierzehn Jahre alt und sie zwölf. Schon bald waren wir unzertrennlich, obwohl wir aus völlig unterschiedlichen Verhältnissen
stammten – Lucy hatte liebevolle, wohlhabende Eltern, die sie vergötterten, während ich meine Eltern nie kennengelernt habe
und nur Dank eines Stipendiums diese hervorragende Schulbildung genießen konnte. Auch äußerlich hätten wir verschiedener nicht
sein können: Ich hatte rosige Wangen, grüne Augen und braunes Haar, war mittelgroß und schien in den Augen anderer eine recht
ansprechende Erscheinung zu sein; Lucy dagegen war eine wunderbare Schönheit mit einer vollkommenen, zierlichen Figur, strahlend
blauen Augen, elfenbeinfarbenem Teint und einem Kopf voller atemberaubender goldener Locken. Lucy ritt für ihr Leben gern,
spielte Ball und Tennis, während ich stets viel glücklicher war, wenn ich die Nase in ein Buch stecken konnte. Und doch hatten
wir in vielerlei Hinsicht einiges gemein.
Während unserer gesamten Schulzeit schliefen wir im gleichen Zimmer, spielten und lernten zusammen, unternahmen gemeinsam
lange Spaziergänge, lachten und weinten miteinander und erzählten uns all unsere Geheimnisse. Da ich kein |17| wirkliches Zuhause hatte, wohin ich zurückkehren konnte, wenn keine Schule war, hatte ich oft – und mit großer Dankbarkeit
– die Ferien bei Lucys Familie verbracht, entweder in ihrem Londoner Haus oder auf dem Land oder in dem jeweiligen modischen
Seebad, das Frau Westenra gerade bevorzugte. Als ich später an meiner alten Schule Lehrerin wurde, blieb unsere Freundschaft
unverändert bestehen. Auch nachdem Lucy ihre Studien abgeschlossen hatte und mit ihrer verwitweten Mutter nach London zurückgekehrt
war, korrespondierten wir eifrig und blieben durch regelmäßige Besuche ständig in Verbindung.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte ich nun und hielt Ausschau nach Frau Westenra.
»Sie ruht sich in unserer Pension aus. Wie gefällt dir mein neues Ausgehkleid? Und mein Hut? Mama behauptet, das sei genau
das Richtige für einen Urlaub am Meer. Aber sie hat einen solchen Wirbel darum gemacht, dass ich Kleid und Hut schon beinahe
nicht mehr sehen kann.«
Ich versicherte Lucy, beide seien wunderschön, und der einzige Grund, warum die Mode sie langweile, sei wohl, dass sie derlei
nie habe entbehren müssen. »Wenn du wie ich nur vier Kleider und zwei Kostüme dein eigen nennen würdest, Lucy, dann würdest
du dich wahrscheinlich nach den Kleidungsstücken sehnen, die du heute so verächtlich betrachtest.«
»Liebe Mina, dir mag es an der Anzahl von Kleidern fehlen, aber du machst das durch deren Eleganz wett, denn du siehst stets
adrett und bezaubernd darin aus. Dieses
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