Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
zuzuknöpfen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und
starrte mit leerem Blick vor sich hin. Nun nahm sie einen Rock aus dem Schrank und zog ihn sich an.
»Lucy!« Ich erhob mich und tappte auf nackten Füßen durch das Zimmer zu ihr hin. »Warum kleidest du dich an?« Wieder erhielt
ich keine Antwort. Lucy schien sich nicht einmal meiner Gegenwart bewusst zu sein. Plötzlich begriff ich, was hier geschah.
Ich war schon Jahre zuvor, als wir noch zur Schule gingen, bei verschiedenen Gelegenheiten Zeugin dieses seltsamen Benehmens
geworden. Eines Nachts, als es schneite, war Lucy aus dem Bett aufgestanden und nach draußen gegangen, mit bloßen Füßen und
im Nachtkleid. Glücklicherweise war sie damals von einer Bediensteten gefunden worden, ehe sie erfror. Die Frau hatte sie
zum Aufwärmen an das Kaminfeuer gesetzt und dann wieder zu Bett gebracht. Ein anderes Mal |30| hatte sich Lucy ihren besten Mantel und Hut angezogen und war die Treppe hinunter in die Küche gegangen, wo sie ein großes
Stück Apfelkuchen aß und ein Glas Milch trank, ehe man sie entdeckte. Am nächsten Morgen hatte sie, wenn überhaupt, stets
nur eine sehr verschwommene Erinnerung an diese Vorfälle.
»Lucy, meine Liebe«, sagte ich nun, während ich ihr die Hände auf die Schultern legte und in die leeren Augen blickte, »es
ist mitten in der Nacht. Du musst wieder zu Bett gehen. Lass mich dir beim Auskleiden behilflich sein.«
Zu meiner Erleichterung widersetzte sie sich nicht. Beim Klang meiner Stimme, vielleicht auch bei der Berührung meiner Hände
schien ihre Absicht völlig zu schwinden, und sie ließ sich willig von mir helfen. Es gelang mir, sie zu entkleiden, ihr das
Nachtkleid überzustreifen und sie erneut zu Bett zu bringen, alles, ohne sie aufzuwecken.
Beim Frühstück am nächsten Morgen war Lucy unverändert fröhlich, plauderte unbekümmert, als hätte sich in der vergangenen
Nacht nichts Außergewöhnliches ereignet. Ich lachte leise und erzählte Lucy und ihrer Mutter von dem Geschehnis.
»Schlafwandeln?«, antwortete Lucy mit einem überraschten Lachen, während sie fortfuhr, Butter und Marmelade auf ihren Toast
zu streichen. »Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich das zum letzten Mal gemacht habe.«
Frau Westenra nahm diese Neuigkeit nicht mit der gleichen Belustigung auf wie wir. »O je«, sagte sie und legte ihre bleiche
Stirn in Sorgenfalten, während sie an der Perlenkette nestelte, die sie um den Hals trug. »Diese alte Angewohnheit von dir,
liebe Lucy, hat mich immer mit Angst und Schrecken erfüllt. Und dass sie ausgerechnet jetzt wieder aufleben soll, da wir uns
an einem wenig vertrauten, neuen Ort befinden …«
Frau Westenra war eine kleine rundliche Dame von fünfundvierzig Jahren. Es war unschwer zu sehen, wem ihre Tochter die Schönheit
zu verdanken hatte, denn beide besaßen |31| die gleichen lieblichen Gesichtszüge, die gleichen tiefblauen Augen, blonden Locken und den gleichen glatten Elfenbeinteint.
Frau Westenra wandte sich zu mir und fügte hinzu: »Diese Neigung hat sie von ihrem Vater geerbt. Auch Edward pflegte mitten
in der Nacht aufzustehen, sich anzukleiden und auszugehen, wenn ich ihn nicht rechtzeitig weckte, um ihn davon abzuhalten.
Einmal fand ihn nachts ein Polizist, wie er in seinem besten Sonntagsanzug durch den St. James’s Park spazierte. Ein andermal,
als wir auf dem Land weilten, trug er um zwei Uhr früh seine ganze Angelausrüstung zum Fluss und wollte fischen.«
Lucy lachte. »Daran erinnere ich mich. Der dumme Papa.« Dann verflüchtigte sich ihr Lächeln, und ihre Augen wurden feucht,
während sie an ihrem Kakao nippte. »Oh, wie ich ihn vermisse.«
»Dein Vater war ein wunderbarer Mann«, stimmte ich ihr zu.
Frau Westenra schüttelte traurig den Kopf. »Nie hätte ich gedacht, dass ich allein zurückbleiben würde. Ich war mir stets
gewiss, dass ich als Erste gehen würde. Der liebe, gute Edward.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie griff
über den Tisch hinweg nach Lucys Hand. »Dem Himmel sei Dank, dass Lucy in den vergangenen anderthalb Jahren bei mir zu Hause
war. Wie es mir nach ihrer Heirat ergehen mag, weiß ich wirklich nicht.«
Lucy legte ihre zweite Hand auf die ihrer Mutter und sah ihr tief in die Augen. »Mama, gut wird es dir ergehen. Arthur und
ich werden nicht weit weg von dir wohnen, und wir werden dich so oft besuchen kommen, dass du kaum merken wirst, dass ich
überhaupt
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