Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
früheren Abteikirche betrachteten.
»Ich habe, ehe ich hierhergekommen bin, eine wunderbare Legende über diese Abtei gelesen«, sagte ich. »Dort wird behauptet,
dass man an manchen Sommernachmittagen, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel auf den nördlichen Teil des Chores fällt,
in einem der Fenster eine Frau in Weiß sehen kann.«
»Eine Frau in Weiß? Wer mag das sein?«
»Manche halten sie für das Gespenst der heiligen Hilda, der angelsächsischen Prinzessin, die das Kloster im sechsten Jahrhundert
gegründet hat und sich an den Dänen rächen will, die ihr großartiges Gebäude zerstört haben.«
»Ein Gespenst!«, rief Lucy mit einem Lachen aus. »Glaubst du an Gespenster?«
»Natürlich nicht. Zweifellos ist diese ›Erscheinung‹ nur eine von den Sonnenstrahlen verursachte optische Täuschung.«
»Nun, mir ist die Legende lieber. Sie ist weitaus romantischer.«
Wir verließen die Abtei und gingen an der Kirche vorbei zurück. Jetzt gelangten wir auf eine weite Fläche zwischen der Kirche
und der Klippe, auf der dicht an dicht verwitterte Grabsteine standen. »Du liebe Güte«, sagte ich, »was für ein riesiger Kirchhof
und was für eine herrliche Aussicht!«
Wirklich war der Friedhof, der die Kirche umgab, sehr groß und ganz wunderbar gelegen. In dramatischer Position oben auf der
Klippe erhob er sich hoch über der Stadt und dem Hafen auf der einen und dem Meer auf der anderen Seite. Er schien ein beliebter
Ausflugsort zu sein. Gut zwei Dutzend Menschen spazierten auf den Wegen, die im Zickzack über den Friedhof verliefen, oder
saßen auf den Bänken am Wegesrand, |28| genossen die Aussicht und erfrischten sich an der leichten Brise.
Die Aussicht zog uns gleichsam magnetisch an. Wir schritten unmittelbar auf die Felsnase zu, wo wir eine grün gestrichene
gusseiserne Bank fanden, die nah am Rand der Klippe stand. Wir setzten uns hin und genossen den herrlichen Blick auf das Panorama
der Stadt und des Hafens unter uns, auf die unendliche, glitzernde Weite des Meeres, die Kaimauern und die ausgedehnten Sandstrände,
die sich durch die ganze Bucht zogen, bis hin zu der Stelle, wo die Landspitze ins Meer vorragte. Neben uns arbeiteten zwei
Maler an ihren Staffeleien; hinter uns blökten auf den Wiesen die Schafe und Lämmer. Ich hörte das Trappeln von Eselshufen
unten auf der gepflasterten Straße und die gemurmelten Gespräche der Vorübergehenden. Sonst war alles friedvoll und unglaublich
heiter.
»Ich glaube, dies ist das schönste Fleckchen in ganz Whitby«, erklärte ich.
»Ich stimme dir völlig zu«, erwiderte Lucy, »und das hier ist die beste Bank. Hiermit beanspruche ich sie als unser Eigentum.«
»Ich denke«, sagte ich mit einem fröhlichen Lächeln, »dass ich recht oft hierherkommen werde, um zu lesen oder zu schreiben.«
Hätte ich damals von den Ereignissen gewusst, die sich an genau diesem Ort abspielen würden, die Lucys Schicksal so schrecklich
wenden und das Meinige so dramatisch und unwiderruflich beeinflussen würden, so wäre ich auf der Stelle umgekehrt und hätte
darauf bestanden, dass wir unverzüglich Whitby verließen. Zumindest würde ich gern glauben, dass ich den Mut dazu aufgebracht
hätte. Aber wie kann man sich das Unvorstellbare vorstellen? Vor allem, da alles so unschuldig begann?
In der ersten Nacht, die ich in Whitby verbrachte, begann Lucy zu schlafwandeln.
|29| Der Abend war recht angenehm verlaufen. Nach unserem Spaziergang waren Lucy und ich zum Haus am Royal Crescent zurückgekehrt,
wo wir ein frühes Abendessen mit Frau Westenra genossen. Diese freundliche Dame war bester Laune und hieß mich herzlich willkommen.
Danach machte ich mich, während Lucy und ihre Mutter in der Nähe einige Pflichtbesuche bei Bekannten absolvierten, noch einmal
allein auf den Weg zum East Cliff, wo ich eine wunderbare Stunde auf »unserer Bank« verbrachte und Tagebuch schrieb.
In jener Nacht jedoch, kaum dass Lucy und ich uns auf unser Zimmer zurückgezogen hatten und eingeschlafen waren, wurde ich
von einem Rascheln aus dem Schlaf geweckt. Die Nacht war mild, und wir hatten die Fensterläden und das Fenster offen stehen
lassen. Als ich schläfrig die Augen aufschlug, bemerkte ich im Schimmer des Mondlichtes, das unsere Kammer erhellte, dass
Lucy aus dem Bett aufgestanden war und sich ankleidete.
»Lucy? Was ist los? Warum bist du auf?«
Meine Freundin antwortete nicht, sondern fuhr nur fort, ihr Unterkleid
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