Dracula, my love
Wildnis, soweit das Auge reichte. Unter mir sah ich einen langen, gewundenen Weg. An manchen Stellen lag noch Schnee auf der Erde, und es war bitterkalt. Um eine Wegbiegung herum kam ein Pferdefuhrwerk, auf dessen Pritsche eine große, offene Holzkiste zu sehen war, etwa von der Größe eines Sarges. Darin lag der Leichnam eines Mannes, aber wer das war, konnte ich nicht erkennen. Eine große Gruppe massiger, langhaariger Männer mit breitkrempigen Hüten, schweren Ledergürteln und schmutzverkrusteten weißen Pluderhosen begleitete das Fuhrwerk. Nach ihrem Aussehen und ihren malerischen Gewändern schloss ich, es müssten Zigeuner sein, wie Jonathan sie in seinem Reisetagebuch beschrieben hatte.
Während ich den sich nähernden Zug betrachtete, stieg in mir das Gefühl auf, dass große Gefahr drohte. Nun kam das Gefährt heran. Ich konnte das Gesicht des Toten in der Kiste deutlich erkennen. Es war Dracula! Zu meinem Entsetzen war er tot, wirklich tot!
Plötzlich preschten vier Reiter aus dem Wald heran: Jonathan, Dr. Seward, Lord Godalming und Herr Morris! Die vier ergriffen ihre Gewehre und schossen auf das Fuhrwerk und seine Begleiter. Die Zigeuner schrien auf, zogen ihre Messer und anderen Waffen. Die Reiter stiegen ab. Ein wilder Kampf begann. Hilflos und entsetzt betrachtete ich das Chaos, das sich vor meinen Augen entfaltete, zuckte bei jedem Schuss und jedem Aufblitzen eines Messers zusammen. Da stach einer der Zigeuner plötzlich auf einen der Engländer ein, der blutend zu Boden sank. Wer war das gewesen? Ich konnte sein Gesicht nicht ausmachen! Welcher der Männer war umgekommen? War es Jonathan?
„Nein!“, schrie ich voller Schmerzen, brachte jedoch kaum mehr als ein Flüstern heraus. „Nein!“
Ich erwachte in Panik und schweißgebadet, aus jener grässlichen Traumszenerie wieder in die stille Ruhe der Gegenwart geworfen. Mein Herz raste. Etwas berührte meinen Arm. Ich schrie laut und riss die Augen noch weiter auf.
„Mina! Mina“, vernahm ich Jonathans sanfte Stimme.
Obwohl die Lampe schon gelöscht war, schien doch das Mondlicht so hell durch die dicken gelben Vorhänge, dass man im Zimmer gut sehen konnte. Ich spürte, wie sich Jonathan an meinen Rücken schmiegte und einen Arm um mich legte. „Du hast schlecht geträumt, Liebste.“
„Oh, Jonathan.“ Ich drehte mich zu ihm und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Ich gab mir größte Mühe, mich zu beruhigen. „Ich habe solche Angst.“
„Jetzt ist alles gut.“ Seine Stimme war schlaftrunken. „Es war nur ein Traum.“
„Es war mehr als ein Traum. Ich habe das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen wird.“
„Nichts Schreckliches wird dir widerfahren, Liebling.“
„Um mich mache ich mir keine Sorgen. Es ist einer von euch. Ich bin mir sicher, dass einer aus eurer Gruppe sterben wird, wenn ihr mit euren Plänen gegen Dracula fortfahrt!“
„Mina, schsch. Du bist noch nicht ganz aufgewacht. Das liegt sicher an dem Schlummertrunk, den du zu dir genommen hast.“
„Ich habe ihn nicht zu mir genommen! Ich bin hellwach. Ich weiß, wovon ich rede. Es war eine Vorahnung, Jonathan!“
Er wich ein wenig vor mir zurück und starrte mich an, während er mir zärtlich über das Haar strich. „Mina, mir sind deine Träume und Vorahnungen sehr vertraut. Ich höre nun schon mein ganzes Leben lang davon.“
„Aber wie oft haben sie sich bewahrheitet! Erinnerst du dich, wie du einmal auf den hohen Baum im Garten hinter dem Waisenhaus klettern wolltest? Damals warst du zehn, glaube ich. Ich sagte: ›Mach es nicht, Jonathan.‹ Ich hatte geträumt, dass du auf einen Baum klettertest, ein Ast abbrach und du runterfielst und dich schwer verletztest. Aber du hast nicht auf mich gehört.“
„Das werde ich nie vergessen. Der Ast hat nachgegeben. Ich bin gestürzt und habe mir den Arm gebrochen.“
„Jahre später habe ich dir einmal gesagt, dass du in der Schule den Preis für den besten Aufsatz gewinnen würdest. Ich hatte einen grauhaarigen Mann gesehen, der dir ein in rotes Leder gebundenes Buch überreichte, in dem dein Name stand. Und genauso ist es gekommen!“
„Aber deine Träume werden nicht immer wahr, Liebste. Weißt du noch, dass du vor einigen Jahren, als du mit den Westenras in die Ferien fahren solltest, panische Angst hattest, es würde ein Zugunglück geben und du und Lucy, ihr würdet beide dabei umkommen?“
Ich seufzte ungeduldig. „Ja, aber ...“
„Der Traum heute war auch so einer, der nur aus
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