Dracula, my love
seine Arme schloss, hatte mich bereitwillig seinem Vampirkuss hingegeben. Böse, böse Mina! Niederträchtiges Weibsstück! Doch eines wusste ich: Wenn Dracula in diesem Augenblick wieder hier in meiner Kammer erschiene, ich würde ihm erneut in die Arme sinken.
Alles, was Dracula zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte, schien mir logisch zu sein und klang in meinen Ohren wahr. Anscheinend war er wirklich unschuldig und hatte keinerlei Untat begangen. Er war ein faszinierender, komplizierter Mann. Ich liebte ihn und glaubte, dass auch er mich liebte. Gewiss, er war ein Untoter. Sicherlich, er besaß erschreckende Fähigkeiten und Kräfte, an die ich kaum denken konnte, ohne dass mir schwindelte. Aber ich begriff nun, dass er nicht unser Feind war. Er war niemandes Feind. Und doch ... er war das Wesen, das mein Mann, Dr. van Helsing und die anderen Männer zu vernichten entschlossen waren!
Wenn ich ihnen nur mitteilen könnte, was ich herausgefunden hatte! Wenn ich nur Nicolaes guten Namen wiederherstellen könnte! Aber das war unmöglich. Falls ich zugab, wie ich erfahren hatte, was ich wusste, würde es nur einen Skandal geben - und wozu das? Diese Männer würden niemals an seine Unschuld glauben. Sie hatten feste Vorstellungen davon, was ein Vampir ist. Sie hatten die Schrecken von Lucys Tod und Auferstehung miterlebt. Und sie hatten ihr zu ihrem wahren Tod verholfen. Höchstwahrscheinlich würden sie mir also nichts von dem abnehmen, was ich zu sagen hatte, ganz gleich, wie vorsichtig oder wie geschickt ich es formulieren würde.
Nein, ich würde Dracula alles überlassen müssen und konnte nur beten, dass er eine Möglichkeit fand, sich zu retten und dabei niemanden zu verletzen, den ich liebte. Und dann ... und dann ... Weiter als bis dahin konnte ich einfach nicht denken. Die Zukunft war mir ein Rätsel. Bitte, Gott, betete ich, hilf mir meine verwirrten Gefühle ordnen. Zeige mir, was ich zu tun habe.
Inzwischen war mein Schwindel vergangen. Ich stand auf, wusch mich und zog mir mein Tageskleid an. Während ich mir das Haar hochsteckte, wirkte das Gesicht, das ich vor mir im Spiegel erblickte, ein wenig blasser als noch am Vortag. Ich zwickte mir in die Wangen und versuchte so, mir etwas Farbe ins Gesicht zu zaubern, allerdings ohne Erfolg.
Die Männer waren wieder alle auf ihren geheimnisvollen Botengängen unterwegs. Nach dem Mittagessen sagte mir ein Bediensteter, Herr Renfield hätte darum gebeten, mich sehen zu dürfen. Diese Anfrage erfüllte mich mit einiger Sorge. Ich hatte das seltsame Benehmen dieses Patienten während meines vorherigen Besuchs noch nicht vergessen, genauso wenig wie die warnenden Worte, die Dr. Seward und Dracula gesprochen hatten. Doch war ich dem Mann auf merkwürdige Art dankbar, denn nur durch seine Hilfe war es Dracula möglich gewesen, das Haus zu betreten und mich zu besuchen. Also glaubte ich, ihm seine Bitte nicht abschlagen zu dürfen. Ich bestand jedoch darauf, dass ein Wärter mich begleitete.
Als wir eintraten, hockte Herr Renfield in einer Zimmerecke auf dem Boden zusammengekauert, murmelte etwas vor sich hin und kaute erregte an den Fingernägeln. Er schien uns nicht bemerkt zu haben, bis ich ihn ansprach.
„Guten Tag, Herr Renfield. Wie geht es Ihnen?“
Nun schaute er auf, und sein Mund verzog sich langsam zu einem breiten Lächeln. „Frau Harker. Wie freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Möchten Sie sich nicht setzen?“
Irgendetwas an seinem Tonfall und seinem Blick ließ mir kalte Schauder über den Rücken laufen. Und doch sprach er wie ein vollendeter Gentleman. „Ich stehe lieber, vielen Dank“, antwortete ich.
„Dann stehe ich auch.“ Er erhob sich und kam auf mich zu, bemerkte jedoch plötzlich den Wärter an meiner Seite. „Was hat der hier zu suchen? Ich habe um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Sagen Sie ihm, dass er gehen soll.“
„Ich hätte gern, dass er bleibt. Weswegen wollten Sie mich sprechen?“
„Oh, es war nichts Besonderes, Frau Harker. Ich wollte Sie nur sehen und Ihre Stimme hören. Sie haben eine sehr angenehme Stimme. Und Sie sind das Hübscheste, was ich seit langer Zeit in diesen vier Wänden erblickt habe. Sie anzuschauen erfüllt mich mit großer Freude. Aber ...“ Er runzelte die Stirn und starrte mich an. „Irgendetwas stimmt nicht. Sie sind heute verändert.“
„Verändert? Was meinen Sie damit?“
„Ihr Gesicht. Es ist wie zweimal aufgegossener Tee. Ich mag die blassen Leute nicht
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