Dracula, my love
Lucy wandte sich ein wenig ab, sodass Herr Wagner sie nicht sehen konnte, und schnitt mir eine komische Grimasse, mit der sie mir ihre stumme Verwunderung und ihre Begeisterung über die angenehmen Manieren und das attraktive Äußere des Mannes mitteilen wollte. Ich musste mir größte Mühe geben, nicht laut loszulachen.
Es war eine kleine Pause in der Musik eingetreten, und einige der Tanzpaare zerstreuten sich. Ein gutaussehender Jüngling kam auf Lucy zugeeilt und fragte: „Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Fräulein?“
Ohne Zögern legte Lucy ihre Hand in die seine und sagte: „Es wäre mir ein Vergnügen, Sir.“ Sie blickte zu mir zurück, zwinkerte zum Abschied und fügte dann hinzu: „Bis später, Mina.“
Nun begannen die Musiker mit dem Vorspiel eines meiner Lieblingswalzer, „Geschichten aus dem Wienerwald“ von Strauss. Herr Wagner streckte mir seinen Arm hin. „Würden Sie mir die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen, Fräulein Murray?“
Ich wusste, eigentlich hätte ich antworten sollen: Das sollte ich besser nicht tun, Sir . Doch er blickte mich mit seinen tiefblauen Augen durchdringend an, und mir pochte das Herz laut in den Ohren. Ich konnte die Worte einfach nicht hervorbringen, doch ebenso wenig konnte ich mich daran hindern, schweigend den Arm zu ergreifen, den er mir bot. Herr Wagner führte mich auf die Tanzfläche. Wie in Trance stand ich ihm gegenüber, und wir nahmen die Walzerposition ein. Sanft zog er mich an sich, bis mein Körper nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. Die Berührung seiner rechten Hand auf meinem Schulterblatt, seine straffen Schultermuskeln unter meiner Linken, der feste Griff seiner anderen Hand in meiner, all das ließ mir das Blut heiß durch die Adern wallen.
Nun begann der eigentliche Walzer, und wir hoben zu tanzen an. Er bewegte sich mit bemerkenswerter Eleganz und Flüssigkeit, jedoch in einem etwas anderen Stil, als ich ihn bisher gewohnt war. Vielleicht war es eine ältere Form des Tanzes oder ein Wiener Brauch, überlegte ich. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hatte ich mich daran gewöhnt und an ihn angepasst. Oder passte er sich an mich an? Da war ich mir nicht sicher. Nach kurzer Zeit wirbelten wir jedoch bereits so harmonisch und formvollendet durch den Saal, dass ich das Gefühl hatte, bis zu jenem Augenblick niemals wirklich verstanden zu haben, was es bedeutete, Walzer zu tanzen. Ein wonnevoller Rausch durchrieselte mich. Die jubelnden Rhythmen der Melodie trugen mich fort. Ich glaubte zu schweben. Lange Zeit gab ich mich einfach dem Genuss der herrlichen Musik und dem Gefühl hin, mich in seine Arme zu schmiegen. Und ich hoffte, der Tanz würde nie enden.
Da unterbrach seine tiefe Stimme meine Träumerei. „Sie tanzen wunderbar, Fräulein Murray.“
„Danke, aber ich bin nur so gut wie der Partner, der mich führt, und Sie sind ein hervorragender Tänzer, Sir.“
„Ich hatte schon viel Gelegenheit zum Üben. Und ich vermute, das trifft auch für Sie zu?“
„Ich habe in meiner Schule Musik und Tanzen unterrichtet.“
„Sind das Pflichtfächer für junge englische Damen?“
„O ja, genau wie Anstandsunterricht und all die üblichen Fächer.“
„Lesen, Schreiben und Rechnen?“
„Und manchmal Französisch oder Italienisch.“
„Ah? Parlez-vous français, mademoiselle?“
„ Oui, monsieur; un peu. Leider spreche ich jedoch kein Deutsch.“
„Das macht doch nichts, mein Fräulein. Wir brauchen für unsere Unterhaltung kein Deutsch. Außerdem ziehe ich ohnehin Ihre Sprache vor.“ Wir lächelten einander zu, während er mich zu den Klängen der Musik herumwirbelte und dann hinzufügte: „Stimmt es, was ich gelesen habe? Dass man in diesem Land den Walzer viele Jahre lang für wenig respektabel hielt?“
„Das war wirklich so, Sir. Und es wäre vielleicht auch heute noch nicht anders, wenn nicht die junge Viktoria den zukünftigen Prinz Albert gebeten hätte, mit ihr noch vor ihrer Heirat Walzer zu tanzen.“
„In diesem Falle bin ich Ihrer Königin zu größtem Dank verpflichtet.“
Ich lachte. Wir tanzten schweigend weiter. Keiner von uns beiden schien den Wunsch zu verspüren, damit aufzuhören, während eine Melodie in die nächste und diese wiederum in die nächste überging. Überrascht stellte ich fest, dass sich trotz der Hitze in dem überfüllten Raum und trotz unserer Anstrengungen nicht einmal das winzigste Schweißtröpfchen auf Herrn Wagners Stirn zeigte und er nie außer Atem geriet. Mir
Weitere Kostenlose Bücher