Dracula - Stoker, B: Dracula
sind?«
»Dann steigen wir in die Gruft hinab.« Arthur stand auf.
»Professor, sprechen Sie im Ernst, oder ist das irgendein ungeheuerlicher Scherz? Verzeihen Sie, ich sehe, dass Sie es vollkommen ernst meinen.« Er setzte sich wieder, aber ich erkannte, dass er eine feste, stolze Miene aufsetzte wie einer, der seine |300| Würde behaupten will. Es entstand eine kleine Pause, bis er weiter fragte:
»Und wenn wir in der Gruft sind?«
»Dann öffnen wir den Sarg.«
»Das ist zu viel!«, rief Arthur, empört aufspringend. »Ich bin gern bereit, in allen Dingen, die nur einen Schein von Vernunft haben, zu folgen, aber eine Schändung des Grabes des Mädchens, das ich …« Die Stimme versagte ihm vor Entrüstung. Der Professor sah ihn mit aufrichtigem Mitleid an.
»Wenn ich Ihnen diese Pein ersparen könnte, mein lieber Freund«, sagte er, »weiß Gott, ich würde es tun. Aber heute Nacht müssen wir alle auf Dornenpfaden wandeln, oder die, die Sie so geliebt haben, wird später und für alle Ewigkeit durch Flammen schreiten müssen.«
Arthur blickte ihn bleich, aber entschlossen an und sagte:
»Nehmen Sie sich in acht, Sir, nehmen Sie sich in acht!«
»Wäre es nicht besser, Sie würden sich anhören, was ich noch zu sagen habe?«, erwiderte van Helsing. »Denn dann erst werden Sie die Tragweite dessen begreifen, was ich vorhabe. Darf ich fortfahren?«
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, warf Quincey ein.
Nach einer kurzen Pause sprach van Helsing weiter, offenkundig unter Mühen:
»Miss Lucy ist tot, nicht wahr? Nun, dann kann ihr also nichts mehr geschehen. Wenn sie aber nicht tot sein sollte …«
Arthur sprang auf.
»Bei Gott«, schrie er. »Was wollen Sie damit sagen? Ist irgendein Versehen vorgekommen, ist sie lebendig begraben worden?« Er stöhnte hörbar vor Qual.
»Ich habe nicht gesagt, dass sie
lebt,
mein Junge, daran ist gar nicht zu denken. Ich sage nichts weiter, als dass sie vielleicht
untot
sein könnte.«
»Untot … nicht am Leben! Was soll das heißen? Ist das ein Albtraum, oder was ist das hier?«
|301| »Es gibt Geheimnisse, über die die Menschen nur rätseln können, Mysterien, von denen ein jedes Zeitalter nur eine bestimmte Seite erkennt. Glauben Sie mir, einem solchen sind wir hier auf der Spur. Doch ich bin noch nicht fertig: Darf ich der toten Miss Lucy das Haupt abschneiden?«
»Himmel und Hölle, nein!«, schrie Arthur in einem Sturm von Leidenschaft. »Um nichts in der Welt werde ich in eine Verstümmelung ihres toten Leibes einwilligen! Dr. van Helsing, Sie überspannen den Bogen. Was habe ich Ihnen getan, dass Sie mich so quälen? Was hat Ihnen das gute Mädchen getan, dass Sie sie noch im Grabe schänden wollen? Sind Sie wahnsinnig, dass Sie solche Sachen aussprechen, oder bin ich es, dass ich mir so etwas auch nur anhöre? Wagen Sie es nicht, an ein derartiges Sakrileg auch nur zu denken! Ich verweigere meine Zustimmung zu allem, was Sie vorhaben! Ich habe die Pflicht, ihr Grab vor jeder Ruhestörung zu schützen, und bei Gott, das werde ich auch!«
Van Helsing erhob sich von seinem Platz, auf dem er die ganze Zeit über ruhig gesessen hatte, und sagte ernst und traurig:
»Verehrter Lord Godalming! Auch ich habe eine Pflicht zu erfüllen, eine Pflicht gegen andere, eine Pflicht gegen Sie, eine Pflicht gegen die Tote. Und bei Gott: Auch ich werde sie erfüllen! Alles, worum ich Sie vorerst bitte, ist, dass Sie mit mir kommen, sehen und hören. Und wenn ich dann noch einmal denselben Vorschlag unterbreite und Sie selbst ihn nicht noch stärker befürworten, als ich es jetzt tue, nun … dann werde ich dennoch meine Schuldigkeit tun, ganz gleich, was Sie davon halten. Natürlich werde ich Euer Lordschaft danach jederzeit für Genugtuung zur Verfügung stehen, wann, wo und auf welche Weise Sie es wünschen!« Hier zitterte seine Stimme leicht, und er fuhr im veränderten Ton voller Mitleid fort:
»Aber ich bitte Sie, gehen Sie jetzt nicht im Zorn von mir fort. In meinem langen Leben hatte ich oft Pflichten zu erfüllen, die gewiss nicht angenehm zu erfüllen waren und die mir fast das Herz zerrissen haben. Aber niemals ist mir etwas schwerer gefallen als |302| das, was ich jetzt tun muss. Glauben Sie mir, wenn die Zeit kommt, da Sie mich verstehen werden, wird mir ein Blick von Ihnen genügen, um die Erinnerung an diese traurigen Stunden zu verwischen. Denn dann habe ich getan, was in menschlicher Macht steht, um das Leid von Ihnen abzuwenden. Bitte denken Sie einmal
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