Dracula - Stoker, B: Dracula
darüber nach: Warum wohl mache ich mir selbst so viel Arbeit, bereite mir so viel Schmerz? Ich bin aus fernem Land hierhergekommen, um mein Bestes zu tun. Anfänglich, um meinem Freund John gefällig zu sein, dann aber, um einem guten, jungen Mädchen zu helfen, das ich ja selbst lieben gelernt habe. Für sie habe ich – ich schäme mich, es einzugestehen, aber es geschieht nur in der besten Absicht – das gegeben, was Sie alle gaben, das Blut aus meinen Adern. Ich gab es, obgleich ich nicht wie Sie ihr Bräutigam war, sondern nur ihr Freund und Arzt. Ich schenkte ihr meine Tage und Nächte vor ihrem Tod und nach ihrem Tod. Und wenn ihr jetzt noch mein eigener Tod etwas nützen könnte, wenn sie dadurch keine tote Untote mehr sein müsste, so wollte ich gerne auch mein Leben für sie geben.« Er sagte das alles mit einem ernsten, schönen Stolz, und Arthur war sichtlich gerührt. Er ergriff die Hand des alten Mannes und sagte mit erstickter Stimme:
»Oh, es ist hart, daran zu denken, und ich begreife das alles nicht, aber ich werde mit Ihnen kommen und sehen.«
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|303| SECHZEHNTES KAPITEL
Dr. Sewards Tagebuch
(Fortsetzung)
Es war gerade drei viertel zwölf, als wir über die niedrige Friedhofsmauer stiegen. Die Nacht war finster, von Zeit zu Zeit brach das Mondlicht hell zwischen den jagenden Wolken hervor. Wir blieben alle eng zusammen, van Helsing aber war immer etwas voraus, als wenn er uns führen wollte. Als wir nahe beim Grab waren, beobachtete ich Arthur scharf, denn ich fürchtete, dass seine Anwesenheit an diesem Ort, der so furchtbare Erinnerungen in ihm wachrufen musste, ihn sehr aufregen würde. Es schien jedoch, als sei das Geheimnisvolle unseres Vorhabens ein Gegenmittel gegen seinen Schmerz.
Der Professor öffnete die Pforte und trat, da er bei jedem von uns ein natürliches Zögern bemerkte, zuerst ein. Wir folgten ihm, und er schloss die Tür. Dann entzündete er eine Laterne und deutete auf den Sarg. Arthur trat zögernd näher, und van Helsing sagte laut zu mir:
»Sie waren gestern mit mir hier. War der Körper von Miss Lucy in diesem Sarg?«
»Ja.« Der Professor wandte sich darauf zu den anderen beiden und sagte:
»Sie hören es, und doch ist einer unter uns, der meinen Glauben nicht teilt.« Er nahm seinen Schraubendreher und schraubte den Deckel auf. Arthur sah gespannt zu, er war bleich und schweigsam. Als der Deckel schließlich abgehoben war, trat er näher. Er wusste offenbar nicht oder hatte es aus irgendeinem Grunde vergessen, dass die Leiche zusätzlich von einem Bleisarg umgeben war. Als er die Schnitte in dem Metall sah, schoss ihm das Blut ins Gesicht. Schnell jedoch wurde er wieder so bleich wie |304| zuvor. Immer noch schwieg er. Van Helsing bog das Blei zurück, wir sahen alle hin und erschraken:
Der Sarg war leer!
Eine lange Zeit sagte niemand ein Wort, dann brach Quincey Morris die Stille:
»Professor, ich habe mich für Sie verbürgt. Ich brauche nichts als Ihr Ehrenwort. Ich würde Sie unter gewöhnlichen Verhältnissen so etwas nicht fragen, es nicht wagen, Ihre Ehrlichkeit infrage zu stellen. Aber dies ist ein Geheimnis, das jenseits von Ehre und Unehre liegt. Haben
Sie
das getan?«
»Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, dass ich sie nicht berührt, geschweige denn beiseitegebracht habe. Die Sache verhält sich folgendermaßen: Vorgestern Nacht kam ich mit John hierher, mit den besten Absichten, das dürfen Sie mir glauben. Ich öffnete den Sarg, der noch versiegelt war, und wir fanden ihn, wie auch heute, leer. Wir warteten und sahen dann etwas Weißes zwischen den Bäumen. Gestern kamen wir bei Tage, und sie lag da. Ist dies so, Freund John?«
»Ja.«
»In jener Nacht kamen wir gerade noch zur rechten Zeit. Ein kleines Kind wurde vermisst, wir fanden es aber, Gott sei Dank, unverletzt zwischen den Gräbern. Gestern Abend kam ich vor Sonnenuntergang nochmals hierher, denn zu dieser Zeit kommen die Untoten heraus. Ich wachte hier, bis die Sonne aufging, konnte aber nichts bemerken. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil ich über die Ritzen der Grabtür Knoblauch gelegt hatte, den die Untoten verabscheuen, und einige andere Dinge, vor denen sie zurückschrecken. Vergangene Nacht unterblieb also der Ausgang, und heute Abend vor Sonnenuntergang nahm ich meinen Knoblauch und die anderen Sachen fort. Darum haben wir den Sarg leer vorgefunden. Aber haben Sie Geduld! Ist es bislang schon seltsam genug, so warten Sie nur eine Weile mit
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