Dracula - Stoker, B: Dracula
Theorien anzunehmen, nun aber, im hellen Tageslicht, erkenne ich in ihnen deutlich eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes. Ich habe allerdings keinen Zweifel, dass er selbst fest daran glaubt, vielleicht ist sein Verstand ja in irgendeiner Weise geschädigt? Denn natürlich
muss
es eine rationale Erklärung für all diese mysteriösen Dinge geben. Ist es vielleicht möglich, dass der Professor das alles selbst verursacht hat? Er ist schließlich von so außergewöhnlicher Klugheit, dass sein Verstand eine derartige fixe Idee auf brillante Art und Weise auszuführen imstande wäre, auch wenn er sich selbst darüber abhanden kommen sollte. Aber ich bin abgeneigt, dies anzunehmen, denn zu glauben, dass van Helsing wahnsinnig sei, wäre ein ebenso großes Wunder wie die erwiesene Wahrheit seiner Theorien. Wie dem auch sei, ich muss ihn im Auge behalten. Vielleicht kann ich ja etwas Licht in das Geheimnis bringen.
|298| 29. September, morgens
Gestern Abend begab ich mich kurz von zehn mit Arthur und Quincey in van Helsings Hotel. Der Professor sagte zu uns, dass er unser aller Mithilfe bedürfe, wandte sich aber hauptsächlich an Arthur, gleichsam als sei unser aller Wille in dem seinen konzentriert. Er sagte zuerst, er hoffe, dass wir ihn ohne Ausnahme begleiteten, denn es gelte, eine schwere Pflicht zu erfüllen. »Sie waren wahrscheinlich sehr erstaunt über meinen Brief?« – Diese Frage war direkt an Lord Godalming gerichtet.
»Allerdings«, antwortete dieser. »Er hat mich sogar etwas verärgert. Es ist in der letzten Zeit immerhin so viel Ungemach über mein Haus hereingebrochen, dass ich recht gut auf Weiteres verzichten kann. Trotzdem bin in neugierig geworden und wollte wissen, was Sie eigentlich meinen. Quincey und ich plauderten darüber, aber je mehr wir plauderten, desto rätselhafter wurde uns die Sache, sodass ich jetzt getrost sagen kann, ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Ich auch nicht«, ließ sich Quincey lakonisch vernehmen.
»Oh«, sagte der Professor, »dann sind Sie beide dem Anfang des Verstehens näher als unser Freund John hier, der erst einmal einen langen Weg zurückgehen muss, um wieder von vorn beginnen zu können.«
Offenbar erkannte er, ohne dass ich ein Wort darüber gesagt hatte, meinen Rückfall in die skeptische Grundhaltung. Dann sagte er, wieder an die beiden anderen gerichtet, mit eindringlichem Ernst:
»Ich erbitte Ihre Erlaubnis, heute Nacht tun zu dürfen, was ich für richtig halte. Es ist, das weiß ich wohl, sehr viel verlangt. Wenn Sie erst wissen,
was
zu tun ich vorhabe, dann werden Sie begreifen, wie viel ich verlange. Genau deshalb muss ich auch vorab Ihr Wort erbitten, blanko und blindlings, sozusagen. Damit Sie sich selbst nicht nachher, wenn Sie mir eine Zeit lang zürnen werden – ich verhehle mir keineswegs die Möglichkeit, dass dieser Fall eintritt – über irgendetwas Vorwürfe machen.«
|299| »Das ist offen gesprochen«, meldete sich Quincey. »Ich verbürge mich für den Professor. Ich begreife zwar seine Beweggründe nicht, aber ich kann beschwören, dass er es ehrlich meint. Und das genügt mir vollkommen.«
»Ich danke Ihnen!«, sagte van Helsing stolz. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Ihr Vertrauen tut mir wohl!« Er reichte Quincey seine Hand, die dieser ergriff und drückte.
Dann sprach Arthur:
»Dr. van Helsing, ich liebe es im Allgemeinen nicht, die Katze im Sack zu kaufen, und wenn es etwas ist, das meiner Ehre als Gentleman und meinem christlichen Glauben zuwiderläuft, so kann ich das Versprechen nicht geben. Wenn Sie mir aber versichern können, dass keines von beiden durch das, was Sie vorhaben, verletzt wird, so gebe ich Ihnen sofort meine Zustimmung, auch wenn ich nicht verstehe, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich nehme Ihre einschränkenden Bedingungen an«, erwiderte van Helsing. »Alles, was ich von Ihnen fordere, ist, dass Sie jede meiner Handlungen, die Sie verdammen zu müssen glauben, erst genau betrachten und sie daraufhin prüfen, ob sie im Widerspruch zu Ihren Anschauungen steht.«
»Einverstanden«, sagte Arthur, »das ist fair. Und nun, da die Einleitung vorüber, darf ich Sie fragen, was wir unternehmen werden?«
»Ich möchte, dass Sie mit mir kommen, und zwar im Geheimen, auf den Friedhof von Kingstead.«
Arthur wurde bleich, und er fragte verstört:
»Wo die arme Lucy begraben liegt?« Der Professor nickte. Arthur fragte weiter: »Und wenn wir dort
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