Dracula - Stoker, B: Dracula
Gewissen aus diesem Vertrauensbruch, denn unter den gegebenen Umständen hielt ich alles für erlaubt, wodurch ich mich vielleicht retten konnte. Der eine war an Mr. Samuel F. Billington, No. 7, The Crescent, Whitby, der andere an Herrn Leutner, Varna, gerichtet; der dritte trug die Adresse: Coutts & Co., London, der vierte die der Bankiers Kloppstock & Billreuth, Budapest. Der zweite und der vierte Brief waren noch nicht geschlossen. Eben wollte ich nach ihrem Inhalt sehen, da bemerkte ich, dass sich die Türklinke bewegte. Rasch ließ ich mich auf meinen Stuhl zurückfallen, nachdem ich gerade noch Zeit gehabt hatte, die Briefe wieder in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen und mein Buch zu ergreifen. Schon trat der Graf ins Zimmer, einen weiteren Brief in der Hand. Er nahm die anderen Briefe vom Tisch, verschloss sie sorgfältig und wandte sich dann an mich:
»Ich hoffe, Sie werden es mir nicht verübeln, aber ich habe heute Abend in dringenden Privatangelegenheiten zu tun. Sie werden, denke ich, alles finden, was Sie brauchen.« An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte nach einer kurzen Pause:
»Lassen Sie sich raten, lieber junger Freund – nein, lassen Sie sich lieber in allem Ernst davor warnen, in einem anderen Teil der Burg zu schlafen, falls Sie die Absicht haben, einmal diese Räume zu verlassen. Die Burg ist alt und hat eine seltsame Vergangenheit; schlechte Träume haben die, welche sich unvorsichtig verhalten. |52| Also seien Sie gewarnt! Sollte Sie irgendwann der Schlaf übermannen, so eilen Sie sofort in Ihr Zimmer oder in eines dieser Gemächer, dann ist Ihre Ruhe gesichert. Sind Sie aber unvorsichtig in dieser Beziehung, dann …« Er schloss seine Rede in unheimlicher Weise, indem er seine Hände rieb, als würde er sich waschen. Ich verstand ihn vollkommen, aber ich zweifelte daran, dass irgendein Traum scheußlicher sein konnte als dieses unnatürliche, grauenhafte Netz von Geheimnissen, das sich um mich zusammenzuziehen scheint.
Später am selben Abend
Ich bestätige meine oben stehenden letzten Worte, denn jetzt kann kein Zweifel mehr bestehen. Ich werde mich aber nicht fürchten, woanders zu nächtigen, wenn nur
er
nicht dort ist. Den Rosenkranz habe ich jetzt über meinem Bett aufgehängt, und dort soll er bleiben – ich hoffe, dass mein Schlaf so freier von Träumen ist.
Als der Graf mich verlassen hatte, zog ich mich zunächst in mein Zimmer zurück. Nach einer kleinen Weile aber, als ich keinen Laut mehr hörte, verließ ich es wieder und ging die steinernen Stufen bis zu dem Raum hinauf, von dem aus man einen Ausblick nach Süden hat. Ich musste dringend ein paar Atemzüge frischer Luft bekommen, und wäre es auch nur die der Nacht über der Burg. Die weite Ebene schien mir ein Bild der Freiheit, die mir unerreichbar ist – ein schmerzlicher Gegensatz zur dunklen Enge des Burghofes. Wann immer ich auf diesen hinuntersah, hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein Gefangener zu sein. Ich fühle, dass diese Nachtexistenz mir schadet, dass sie meine Nerven angreift. Ich erschrecke vor meinem eigenen Schatten und habe die schrecklichsten Gesichte – Gott weiß, dass an diesem verwünschten Ort Grund zu jeglicher Sorge gegeben ist. Ich sah also hinaus in die von sanftem, gelblichem Mondschein durchflutete, wundervolle Weite. In dem ungewissen Licht verschwammen die Umrisse der fernen Hügel, und die |53| Schatten in den Tälern und Schluchten waren von samtartiger Schwärze. Der Anblick dieser Schönheit gab mir Mut, und mit jedem Atemzug sog ich Frieden und Trost ein. Als ich mich darauf aber leicht aus dem Fenster lehnte, wurde mein Blick durch etwas gefesselt, das sich ein Stockwerk tiefer, links von mir bewegte; nach der Lage der Zimmer mussten sich hier die Fenster des Grafen befinden. Das Fenster, an dem ich stand, war groß und ebenso tief wie die dicken Mauern. Auch hatte es einen steinernen Pfosten und war, obgleich verwittert, dennoch ganz gut erhalten. Ich versteckte mich also hinter dem Mauerwerk und spähte angestrengt hinaus.
Das Erste, was ich bemerkte, war der Kopf des Grafen, der sich aus dem Fenster reckte. Zwar konnte ich das Gesicht nicht sehen, aber ich erkannte den Nacken und die Bewegungen des Rückens und der Arme. Der letzte Zweifel schwand schließlich, als ich die Hände erkannte, die zu studieren ich ja schon reichlich Gelegenheit gehabt hatte. Zuerst blickte ich nur voller Interesse hinaus, beinahe belustigt, denn es ist eigenartig, welche
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