Schattengeschichten
Vorwort
Wer eine typische Anthologie mit typischen Horror-Geschichten erwartet, der wird enttäuscht werden. Wenn Sie zu diesen erwartungsvollen Lesern gehören, dann vermeiden Sie bitte den Kauf. Oder wenn Sie dieses Buch schon erworben haben, stornieren Sie es. Sofort! Ich möchte nicht, dass Sie sich ärgern. In dieser Sammlung werden keine halbnackten Frauen von Monstern zerfetzt, kein Serienkiller zerstückelt seine Opfer und vergewaltigt sie danach, und kein Vampir oder Werwolf streift bei Nacht und Vollmond durch meine Stadt. Es gibt keinen Boogeyman im Wandschrank und keine abgeschlossenen Räume in Dunkelheit. Hier lebt das Grauen in der Realität.
Mit allen anderen Lesern nun, deren Interesse ich jetzt geweckt habe, möchte ich ein paar Gedanken teilen. Jede Horror-Anthologie scheint bevölkert mit gefährlichen Wesen, dunklen Begebenheiten und extremen Erfahrungen. Ob Geister, Zombies oder Dämonen, Ihnen werden Sie auch in meinen Geschichten begegnen. Aber nichts ist so, wie Sie es erwarten.
Da das Horror-Genre voll von Klischees ist und seit den 80er Jahren mehr und mehr in eine verpönte Nische gedrängt wurde, bin ich entschieden dagegen zu erzählen, was schon zig andere vor mir erzählt haben.
Dazu passt, dass der eigentliche Autor dieses Werkes, Hauke Rouven, gar nicht mehr unter uns weilt. Sagen wir, er war einmal hier und ist es nicht mehr. Was das bedeuten soll?, fragen Sie. Genau das überlasse ich Ihnen zu beantworten. Ebenso überlasse ich es Ihnen zu entscheiden, ob meine Geschichten die Genre-Konventionen bedienen und denen nichts hinzufügen können oder ob Sie in ihnen etwas finden können, das neu ist.
Wenn Gerrit in der Geschichte „Echo des Fegefeuers“ eine Fotofilmdose findet, die alles in sich aufsaugt; wenn Lisa und Vincent in „...und sie erreichen das Haus“ einem Wesen begegnen, das nur ausgedacht sein kann; wenn Dennis von niemandem beachtet wird und von einer Stimme „Eine zweite Chance“ erhält; oder wenn Franz in „Mein letzter Fall“ auf seinen Doppelgänger trifft; Xavier als moderner Magier ein altertümliches „Duell“ austragen muss; und Marius „Auf einer Hochzeit“ nur ein Gast ist, obwohl er der Bräutigam sein müsste; wenn die Figuren in den Geschichten dieser Sammlung einem Schicksal gegenüber treten, das fremdbestimmt und unheimlich ist, dann treffen sie auf ihre Schatten.
Darum geht es mir, darum ging es Hauke, als er sie schrieb. In 13 Geschichten begeben Sie sich auf die andere Seite der Realität, der dunklen, die genauso undurchschaubar ist wie unsere eigene Welt. Und wenn ich Ihnen nicht alles erkläre, dann nur, weil auch mir nicht alles erklärt wird.
Haben Sie Lust auf diesen Trip? Ich sehe es in Ihren Augen, diese Wissbegierde, ob ich Ihnen zu viel versprochen habe. Machen wir einen Deal. Sie lesen diese Anthologie durch und lassen mich danach wissen, wie Sie sie fanden.
Und jetzt, viel Spaß, gute Unterhaltung, und halten Sie sich fest. Nicht immer, aber manchmal wäre es besser. Wir sehen uns in den Schatten.
Christian Sidjani, 10. Juni 2013
Echo des Fegefeuers
Das rote Licht schien dunkel und schwer in den Raum, hinterließ schwarze Ecken und Winkel. Gerrit zog behutsam ein weiteres Bild aus der Flüssigkeit und hing es mit einer Klammer auf eine Leine. Urlaubsfotos, insgesamt drei Filme, von einer Familie, an der das Phänomen Digitalkamera anscheinend vorbei gegangen war und die deshalb jede Nichtigkeit ihres Mallorca-Urlaubs auf ordinäre Negativfilme gebannt hatte. Gerrit begann seine Schicht erst und sechs Stunden hatte er nun dort drinnen zu ertragen. Die Klimaanlage war seit einigen Tagen defekt und der Sommer hielt Hamburg umschlungen. Gerrit schwitzte erbärmlich. Nachdem er die Mallorca-Fotos hinter sich gebracht hatte, folgten eine Reihe von Babyfotos und Fotos von Familienfesten oder Geburtstagen. Nicht viel später verschwand ein unentwickelter Film.
Gerrit war sich sicher, dass er die Fotodose wieder geschlossen hatte, also konnte ihm der Film nicht herausgefallen sein. Trotzdem tastete er den Boden ab, das rote Licht half ihm wenig bei der Suche. Als er über die schmutzige Oberfläche wischte, piekste es ihn in den Zeigefinger. Ein kleiner Splitter hatte sich in seine Haut gebohrt, und widerwillig gab er seine Suche auf.
„Wo, verdammt noch mal, steckt dieser Scheißfilm?!“, flüsterte er zu sich selbst und drehte sich im Kreis, sein Blick überflog die Umrisse des kleinen Tisches rechts von ihm und
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