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Dracula - Stoker, B: Dracula

Dracula - Stoker, B: Dracula

Titel: Dracula - Stoker, B: Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bram Stoker
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den Burghof herein wie die jäh befreite Flut eines Staudamms.
    Die Frau schrie nicht, und auch das Toben der Wölfe war nur kurz zu hören. Bald darauf trotteten sie einzeln davon, sich die blutigen Lefzen leckend.
    Ich konnte die arme Frau nicht einmal bemitleiden, denn es war sicher besser so für sie, wusste ich doch, was mit ihrem Kind geschehen war.
    Was soll ich nur tun? Was kann ich tun? Wie kann ich dieser entsetzlichen Leibeigenschaft von Nacht, Finsternis und Furcht entkommen?
     
    25. Juni, morgens
    Niemand, der noch nicht solche Nächte durchlitten hat, weiß, wie süß und teuer für Herz und Augen der Anbruch des Morgens sein kann. Als die Sonne so hoch gestiegen war, dass sie die Spitze des großen Torwegs gegenüber meinem Fenster erreicht |71| hatte, bedeutete dieser leuchtende Punkt für mich dasselbe, was die Taube für Noah bedeutet haben mochte. Die Furcht fiel von mir ab, sie schien nur noch ein Nebelschleier, der in der Tageswärme verdunstete. Ich muss etwas unternehmen, auf irgendeine Weise handeln, solange mir das Tageslicht Mut gibt. Heute Nacht ging mein erster, im Voraus datierter Brief ab; der erste in der verhängnisvollen Reihe, die jegliche Spur meiner Existenz von der Erde tilgen soll.
    Ich darf nicht daran denken. Ich muss handeln!
    Stets war es nur zur Nachtzeit, dass ich bedroht und gepeinigt wurde, mich in Furcht und Gefahr befand. Ich habe den Grafen bis heute noch nicht bei Tage gesehen. Ist es denkbar, dass er schläft, während die anderen wachen, und dass er wachen muss, wenn sie schlafen? Wenn ich doch nur in sein Zimmer gelangen könnte! Aber dazu ist keine Möglichkeit; die Tür ist immer verschlossen, es ist aussichtslos.
    Doch halt, vielleicht gibt es doch einen Weg für den, der wagt. Wo
er
entlanggeht, müsste doch auch ein anderer gehen können! Ich habe ihn selbst aus dem Fenster kriechen sehen, warum sollte ich es ihm nicht nachmachen und in sein Fenster hineinsteigen? Die Erfolgsaussichten sind nicht groß, aber die allgemeinen Aussichten meiner Lage sind noch geringer. Ich muss es wagen! Im schlimmsten Falle bedeutet es den Tod, aber der Tod eines Menschen ist etwas anderes als der eines Tieres – mich erwartet das unbekannte Jenseits. Gott gebe mir Kraft zu meinem Unternehmen! Leb wohl, Mina, wenn ich es nicht schaffen sollte! Und leben auch Sie wohl, Mr. Hawkins, mein treuer Freund und zweiter Vater, lebt wohl, ihr alle, vor allem aber du, meine Mina!
     
    Später am selben Tag
    Ich habe es gewagt und bin mit Gottes Hilfe unversehrt wieder in mein Zimmer zurückgekehrt! Ich will alles der Reihenfolge nach berichten. Meinen ganzen Mut zusammennehmend, bin |72| ich zum Fenster auf der Südseite gegangen und auf den schmalen Sims hinausgeklettert, der rings um das Gemäuer läuft. Die Steine sind groß und roh behauen, und die Zeit hat längst allen Mörtel zwischen ihnen hinweggespült. Ich zog also meine Stiefel aus, warf sie zurück ins Zimmer und machte mich auf den verzweifelten Weg. Zuvor jedoch sah ich einmal absichtsvoll hinunter in den grausigen Abgrund, damit mich ein zufälliger Blick auf meinem Weg nicht überwältigen würde. Im Weiteren hielt ich meine Augen dann von der Tiefe abgewandt. Ich wusste sehr genau über die Richtung und die Entfernung Bescheid, in der das Fenster des Grafen lag, konnte mich also gut orientieren und kam den Umständen entsprechend zügig voran. Ich spürte keinen Schwindel – wahrscheinlich war ich zu aufgeregt –, und die Zeit schien mir lächerlich kurz, bis ich mich auf der Fensterbank meines Zieles wiederfand, das Schiebefenster hochdrückend. Aufs Höchste erregt, stieg ich, gebückt und mit den Füßen voran, durch die Öffnung hinein. Mich vorsichtig nach dem Grafen umsehend, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass das Zimmer leer war. Es war mit seltsamen Dingen möbliert, die den Eindruck machten, als wären sie nie benutzt worden; der Stil des Mobiliars glich dem der südlichen Zimmer, und alles war ebenso dicht mit Staub bedeckt wie dort. Ich machte mich auf die Suche nach dem Schlüsselbund, aber es steckte weder im Schlüsselloch, noch war es irgendwo anders zu finden. Das Einzige, was ich entdeckte, war ein großer Haufen Goldstücke in einer Ecke – Goldstücke aller Art, römisches, englisches, österreichisches, ungarisches, griechisches und türkisches Geld, gleichfalls mit einer dichten Staubschicht überzogen, als läge es schon sehr lange hier auf dem Boden. Keine der Münzen war weniger

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