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Dracula - Stoker, B: Dracula

Dracula - Stoker, B: Dracula

Titel: Dracula - Stoker, B: Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bram Stoker
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konnte ich die Bank und die weiße Gestalt darauf endlich genauer erkennen, denn ich war schon nahe genug, um selbst im Dunkel der Nacht alles zu unterscheiden. Ohne Zweifel: Irgendetwas Langes, Schwarzes beugte sich über die halb zurückgelehnte weiße Gestalt … Voller Entsetzen schrie ich: »Lucy! Lucy!« Darauf hob das Ding den Kopf und wandte mir ein bleiches Gesicht mit rotglühenden Augen zu. Lucy antwortete nicht, und ich rannte zum Friedhofstor. Dabei geriet für einen Augenblick die Kirche zwischen mich und die Bank und versperrte mir die Sicht. Als ich gleich darauf wieder in ihre Richtung sehen konnte, waren die dunklen Wolken gänzlich vorübergezogen und alles lag in hellem Mondschein. Lucy saß halb zurückgelehnt auf der |137| Bank, ihr Kopf war über die Lehne zurückgefallen. Sie war ganz allein, weit und breit keine Spur von einem lebenden Wesen.
    Bei ihr angekommen, beugte ich mich über sie und stellte fest, dass sie noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet, und sie atmete nicht sanft, wie sie es sonst tat, sondern in langen, schweren Zügen, als müsse sie darum kämpfen, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Im Schlaf bewegte sie die Hände und zog sich den Kragen ihres Nachthemdes fester um den Hals zusammen. Es überlief sie dabei ein leichter Schauer, als ob sie Kälte empfinde. Ich schlug daher meinen warmen Schal um sie und zog ihn fest zusammen, denn ich fürchtete, sie könnte sich eine tödliche Erkältung zuziehen, so unbekleidet, wie sie war. Den Schal steckte ich ihr mit einer großen Sicherheitsnadel fest, wobei ich sie vor Aufregung aber wohl gestochen haben muss, denn als ihr Atem allmählich ruhiger zu werden begann, fuhr sie sich mit der Hand öfter an den Hals und stöhnte. Nachdem ich sie sorgfältig eingewickelt hatte, zog ich ihr noch meine Schuhe an die Füße und versuchte dann schließlich, sie schonend zu wecken. Zuerst reagierte sie gar nicht darauf, aber allmählich wurde ihr Schlaf doch weniger tief, und sie seufzte und stöhnte von Zeit zu Zeit. Schließlich aber, als es mir zu lange dauerte und weil mir darum zu tun war, sie möglichst rasch nach Hause zu bringen, schüttelte ich sie heftig, worauf sie die Augen öffnete und erwachte. Sie schien gar nicht überrascht, mich zu sehen, wie sie sich auch zweifelsfrei gar nicht im Klaren darüber war, wo sie sich eigentlich befand. Lucy ist immer hübsch, auch beim Erwachen. Und sogar jetzt, wo doch ihr Leib vor Kälte zitterte und sie darüber entsetzt sein musste, mitten in der Nacht unbekleidet auf einem Friedhof zu erwachen, verlor sie ihre Grazie nicht. Sie bebte nur ein wenig und klammerte sich an mich. Als ich ihr sagte, sie müsse jetzt sofort mit mir heimgehen, stand sie mit dem Gehorsam eines Kindes auf, ohne ein Wort zu sagen. Im Gehen stieß ich mit dem nackten Fuß an einen größeren Stein, und Lucy hörte meinen |138| unterdrückten Schmerzensschrei. Sie blieb stehen und bestand darauf, dass ich selbst meine Schuhe wieder anziehe, aber ich tat es nicht. Nachdem wir den Pfad hinter dem Friedhof erreicht hatten, stapfte ich jedoch absichtsvoll durch den dunklen Schlamm, damit auf unserem Heimweg durch die Stadt niemand im Dunklen erkennen konnte, dass ich barfuß war.
    Das Glück war uns günstig, denn wir kamen nach Hause, ohne auch nur einer Seele begegnet zu sein. Nur einmal sahen wir einen Mann auf uns zukommen, der nicht mehr ganz nüchtern zu sein schien, und wir versteckten uns in einem Torbogen, bis er in einer der kleinen, abschüssigen Gassen – in Schottland nennt man sie »Wynds« – verschwunden war. Mein Herz schlug so laut in unserem Versteck, dass ich mehrmals glaubte, umsinken zu müssen. Ich war in heißer Angst um Lucy – nicht nur, weil ihre Gesundheit unter diesem Abenteuer gelitten haben konnte, sondern auch in Anbetracht ihres guten Rufes, falls die Sache bekannt werden würde. Als wir daheim unsere Füße gereinigt und zusammen ein Dankgebet gesprochen hatten, brachte ich sie wieder in ihr Bett. Bevor sie einschlief, bat sie mich, ja sie flehte mich an, niemandem über ihr nächtliches Abenteuer ein Wort zu verraten, auch ihrer Mutter nicht. Ich versprach es ihr nur zögernd. Als ich aber dann an das Befinden ihrer Mutter dachte und wie es sie angreifen würde, so etwas zu erfahren, und wie sehr man die Sache wahrscheinlich – nein, sicher – missdeuten würde, wenn etwas an die Öffentlichkeit durchsickerte, hielt ich es für klüger, das Versprechen zu geben. Ich hoffe,

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