Dracula - Stoker, B: Dracula
›Zauberei‹ wieder neue Kräfte verschafft haben sollte. Hoho!«
Er schien so optimistisch, dass ich in Erinnerung an meine eigene Zuversicht zwei Nächte zuvor und die darauffolgende Enttäuschung eine unbestimmte Furcht nicht unterdrücken konnte. Dem Freund meine Bedenken einzugestehen, war ich zu schwach. Umso stärker jedoch fühlte ich sie, wie unvergossene Tränen.
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|196| ELFTES KAPITEL
Lucy Westenras Tagebuch
11. September
Wie gut alle zu mir sind! Ich mag Dr. van Helsing wirklich sehr. Warum wurde er wegen dieser Blüten nur so zornig? Er hat mich mit seinem Wutausbruch wirklich erschreckt. Und doch hat er wohl recht, denn ich habe das Gefühl, als ginge von dem Knoblauch eine ruhige Behaglichkeit aus. Jedenfalls fürchte ich mich nicht davor, heute Nacht allein sein zu müssen, und ich kann mich ohne Sorge zur Ruhe legen. Selbst das Flattern draußen an meinem Fenster stört mich nicht mehr. Vielleicht ist dieser schreckliche Kampf gegen das Einschlafen nun endlich vorbei, die Qual der Schlaflosigkeit und die Angst vor der Nacht, die mir so unbegreifliche Schrecken brachte. Wie glücklich sind doch alle Menschen, deren Leben ohne Furcht, ohne Angst dahinfließt, denen der Schlaf ein Tröster ist, der allnächtlich kommt, um ihnen schöne Träume zu bringen. Nun ist es Nacht geworden, und ich liege da wie Ophelia 1 , mit »jungfräulichem Kranz und Mädchenschmuck «, und warte auf den Schlaf. Früher konnte ich Knoblauch nicht leiden, aber heute Nacht ist er mir köstlich! Es liegt Frieden in seinem Duft. Ich fühle, wie der Schlaf leise herankommt. Gute Nacht Ihr alle!
|197| Dr. Sewards Tagebuch
12. September
Fuhr ins »Berkeley« 2 und fand van Helsing, wie immer, bereit. Die vom Hotel bestellte Kutsche wartete ebenfalls schon. Der Professor nahm seine Tasche mit, die er jetzt immer bei sich führt.
Ich will alles der Reihe nach niederschreiben. Van Helsing und ich kamen um acht Uhr nach Hillingham, es war ein herrlicher Morgen. Der fröhliche Sonnenschein und der frische Hauch des Frühherbstes kamen mir vor wie die Vollendung des jährlichen Werkes der Natur. Die Blätter hatten schon allerlei schöne Farben angenommen, hatten aber noch nicht begonnen, von den Zweigen zu fallen. Als wir eintraten, begegnete uns Mrs. Westenra, die eben aus ihrem Boudoir kam. Sie ist von jeher eine Frühaufsteherin und begrüßte uns herzlich:
»Sie werden froh sein zu hören, dass es Lucy besser geht. Das gute Kind schläft noch. Ich sah in ihr Zimmer, ging aber nicht hinein, um sie nicht zu stören.« Der Professor lächelte und sah triumphierend aus. Er rieb seine Hände und sagte:
»Ah, da habe ich den Fall also richtig diagnostiziert, meine Behandlung hat anscheinend Erfolg.« Sie antwortete darauf:
»Sie dürfen sich aber nicht alle Verdienste selbst zuschreiben, Herr Doktor. Lucy hat ihr Wohlbefinden heute Morgen nämlich auch ein wenig mir zu verdanken.«
»Wie meinen Sie das, gnädige Frau?«, fragte der Professor.
»Nun, ich sorgte mich heute Nacht um das liebe Kind und ging in ihr Zimmer. Sie schlief tief – so tief, dass sogar mein Kommen sie nicht aufzuwecken vermochte. Aber das Zimmer war entsetzlich schlecht gelüftet! Überall waren diese hässlichen, scharf riechenden Blüten, und sie hatte sogar einen Kranz davon um den Hals! Ich befürchtete, dass der schwere Geruch ihr in |198| ihrem schwachen Zustand Schaden zufügen könnte, nahm alles weg und öffnete das Fenster ein wenig, um frische Luft hereinzulassen. Nun, Sie werden Ihre Freude an ihr haben, davon bin ich überzeugt!«
Damit begab sie sich in ihr Boudoir zurück, wo sie frühzeitig ihren Morgenimbiss einzunehmen pflegte. Während ihrer Worte hatte ich das Gesicht des Professors beobachtet und bemerkt, dass es aschfahl wurde. Er war imstande, seine Selbstbeherrschung so lange zu behalten, wie Mrs. Westenra anwesend war, denn er kannte ihren Zustand und wusste, wie verhängnisvoll ein Schrecken für sie werden konnte. Er lächelte ihr sogar noch zu, während er ihr die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Aber kaum war sie verschwunden, da zerrte er mich hastig ins Speisezimmer und verschloss die Tür hinter uns.
Und nun sah ich van Helsing das erste Mal in meinem Leben die Fassung verlieren. In stummer Verzweiflung schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, hilflos und gebrochen. Dann warf er sich auf einen Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte, ein lautes, trockenes Schluchzen,
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