Dracula - Stoker, B: Dracula
das aus den tiefsten Tiefen seines Herzens zu kommen schien. Darauf hob er seine Arme, als wollte er das ganze Universum anrufen: »Oh Gott, oh mein Gott, mein Gott! Was haben wir, was hat das arme Ding getan, dass wir so furchtbar verfolgt werden? Herrscht denn noch das blinde Schicksal über uns, ein Relikt aus der antiken, heidnischen Welt, dass solche Dinge geschehen können und auf solche Weise? Diese arme Mutter tut unbewusst und in der besten Absicht etwas, was den Leib und die Seele ihres Kindes zerstört, und wir dürfen es ihr nicht einmal sagen, sie nicht warnen, sonst stirbt sie – und dann sterben beide! Oh Gott, wie hart sind wir gestraft! Warum hat sich denn die ganze Hölle gegen uns verbündet?« Plötzlich sprang er auf. »Kommen Sie«, sagte er, »kommen Sie, wir wollen sehen und handeln. Und wenn sich alle Teufel miteinander verschworen haben – das ist uns ganz gleich! Wir bekämpfen sie alle!« Er ging zur Haustür |199| hinunter, um seinen Koffer zu holen, dann begaben wir uns in Lucys Zimmer.
Wieder zog ich die Vorhänge auf, während van Helsing auf das Bett zutrat. Diesmal erschrak er jedoch nicht über das schmale Gesicht, das dieselbe furchtbare, wachsartige Blässe zeigte wie zuvor. Tiefste Traurigkeit und grenzenloses Mitleid lagen in seinem Blick.
»Wie ich es erwartet habe!«, murmelte er, mit dem tiefen, zischenden Atemzug, der bei ihm so viel zu sagen hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er zur Tür und schloss sie ab. Dann legte er auf dem kleinen Tisch wiederum die Instrumente aus, um eine neue Transfusion vorzunehmen. Auch ich hatte längst diese Notwendigkeit erkannt und begonnen, meine Jacke auszuziehen, aber er gebot mir durch eine Handbewegung Einhalt. »Nein«, sagte er, »heute müssen
Sie
die Transfusion machen, und
ich
werde mit dem Blut aushelfen. Sie sind schon zu sehr geschwächt.« Während er so sprach, zog er seine Jacke aus und rollte die Hemdsärmel hoch.
Die Operation begann von neuem. Wieder das Narkotikum, wieder die Rückkehr von etwas Farbe in die kreidebleichen Wangen und der regelmäßige Atem heilsamen Schlafes. Anschließend hielt ich Wache, während van Helsing sich kurz erholte.
Bald darauf fand er Gelegenheit, Mrs. Westenra zu sagen, dass sie nichts aus Lucys Zimmer entfernen sollte, ohne zuvor seinen Rat eingeholt zu haben – der Geruch der Blüten sei von medizinischem Wert und bilde einen Teil seines Heilverfahrens. Zugleich legte er fest, ab sofort wieder selbst die Fürsorge zu übernehmen und diese und die folgende Nacht persönlich bei Lucy zu wachen. Wenn er mich braucht, wird er mich rufen.
Nach einer Stunde erwachte Lucy aus ihrem Schlaf, frisch und munter und offenbar nicht allzu sehr angegriffen von den jüngsten Ereignissen.
Was hat das alles zu bedeuten? Ich frage mich, ob mein beständiges Leben unter Wahnsinnigen nicht doch schon begonnen hat, auf mein Gehirn einzuwirken.
|200| Lucy Westenras Tagebuch
17. September
Vier Tage und vier Nächte des Friedens. Ich werde wieder so kräftig, dass ich mich kaum wiedererkenne. Es ist mir, als wäre ich nach einem langen, schweren Albdrücken erwacht, um den herrlichen Sonnenschein und die frische Luft um mich herum zu fühlen. Ich habe eine dunkle Erinnerung an lange, angsterfüllte Zeiten des Wartens, an eine scheinbar endlose Finsternis ohne Hoffnung, die das Elend erträglicher hätte machen können. Dann lange Pausen des Vergessens und die Rückkehr ins Leben, ganz wie ein Taucher, der aus großen Tiefen wieder an die Oberfläche kommt. Aber seit Dr. van Helsing bei mir ist, scheinen diese bösen Träume verschwunden zu sein. Die Geräusche, die mich bis zur Verzweiflung zu ängstigen pflegten – das Flattern am Fenster, die fernen Stimmen, die mir doch so nahe erschienen, die strengen Befehle, die, ich weiß nicht woher, kamen und mich zwangen, ich weiß nicht was zu tun – alles das ist vorbei. Ich gehe jetzt ohne eine Spur von Furcht vor dem Schlaf zu Bett. Ich mache nicht einmal mehr den Versuch, wach zu bleiben. Ich habe den Knoblauch richtig lieb gewonnen, von dem jeden Tag ein neuer Karton aus Haarlem für mich ankommt. Heute Nacht will van Helsing wegfahren, da er einen Tag in Amsterdam zu tun hat, aber ich bedarf keines Pflegers mehr. Ich fühle mich kräftig genug, um allein bleiben zu können. Ich danke Gott für meine Mutter, meinen teuren Arthur und für all die treuen Freunde, die so gütig zu mir sind! Heute Nacht wird es kaum anders sein als zuvor, denn
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