Dracula - Stoker, B: Dracula
letzte Nacht war auch van Helsing in seinem Lehnstuhl eingeschlafen. Zweimal wachte ich auf und fand ihn schlafend, fürchtete mich aber dennoch nicht, wieder einzuschlafen. Und dass, obwohl wieder Zweige oder Fledermäuse oder irgendetwas anderes ziemlich heftig gegen die Fensterscheiben schlugen.
|201| »The Pall Mall Gazette«, 18. September
Der entflohene Wolf
Ein gefährliches Abenteuer unseres Reporters
Interview mit einem Wärter des Zoologischen Gartens
Nach vielen Erkundigungen und fast ebenso vielen Absagen gelang es mir endlich, da ich die Worte »The Pall Mall Gazette« beständig wie ein Zauberwort im Munde führte, den Aufseher desjenigen Teils des Zoologischen Gartens ausfindig zu machen, in dem sich die Wölfe befinden. Thomas Bilder lebt in einem der Häuschen, die sich in der Einfriedigung hinter dem Elefantenhaus befinden, und er saß gerade beim Tee, als ich ihn dort aufsuchte. Thomas und seine Frau sind gastfreundliche Menschen, schon etwas älter und kinderlos, und wenn ich aus der Art, wie ich bei ihnen aufgenommen wurde, einen Schluss ziehen darf, so befinden sie sich in guten Verhältnissen. Der Aufseher wollte erst vom »Geschäft« sprechen, wenn das Essen vorüber sei, womit wir alle zufrieden waren. Als dann abgetragen war und er seine Pfeife angezündet hatte, begann er:
»Nun, Sir, jetzt können Sie daran gehen mich zu fragen, was immer Sie wünschen. Sie werden mir verzeihen, dass ich von geschäftlichen Dingen nicht gerne vor dem Ende der Mahlzeiten spreche. Ich gebe auch den Wölfen, Schakalen und Hyänen in meiner Abteilung zuerst ihr Futter, bevor ich Fragen an sie richte.«
»Was wollen Sie damit sagen: ›Fragen an sie richten‹?«, fragte ich ihn, in der Hoffnung, ihn in eine etwas mitteilsamere Stimmung zu versetzen.
»Sie mit einer Stange über den Kopf schlagen ist das eine, das Kraulen des Fells das andere, wenn junge Männer ihren Mädchen ein kleines Schauspiel bieten wollen. Mit der Stange schlage ich sie über den Kopf, bevor ich ihnen ihr Futter hinwerfe. Das Kraulen hinter den Ohren aber wage ich erst, wenn sie ihren |202| Sherry und ihren Kaffee gehabt haben, wenn man so sagen darf. Glauben Sie mir«, fügte er philosophierend hinzu, »es ist ein gutes Stück der gleichen Natur in uns wie in diesen Tieren. Da kommen Sie vorhin daher und fragen mich Sachen über das Geschäft, und ich antworte Ihnen brummig, dass Sie mir mindestens einen halben Sovereign 3 geben müssten, damit ich Ihnen was erzähle. Sie hätten nicht einmal etwas aus mir herausbekommen , wenn Sie mir mit dem Direktor gedroht hätten. Ohne Ihnen zu nahetreten zu wollen: Habe ich Ihnen vorhin nicht gesagt, dass Sie sich zum Teufel scheren sollen?«
»In der Tat.«
»Und als Sie daraufhin drohten, mich wegen Beleidigung anzuzeigen, so war das wie der Schlag mit der Stange auf den Kopf. Der halbe Sovereign hingegen machte alles wieder gut. Ich wollte ja auch gar nicht grob sein, ich hatte einfach nur noch nichts gegessen und verhielt mich so wie meine Wölfe, Löwen und Tiger das in diesem Fall auch tun. Aber jetzt, wo meine Alte – Gott segne sie! – mir ein Stück Kuchen in den Rachen geschoben und mich mit dem Inhalt ihres großen Teetopfes ausgeschwenkt hat, und wo zudem mein Pfeifchen brennt – jetzt können Sie mich hinter den Ohren kraulen, so viel Sie wollen. Ich werde nicht einmal knurren. Fragen Sie nur! Ich weiß ja ohnehin, warum Sie gekommen sind, es ist wegen des entflohenen Wolfes.«
»Ganz richtig. Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Ansichten darüber mitzuteilen. Zunächst interessiert mich, wie es passiert ist. Und wenn ich die Tatsachen kenne, würde ich gerne etwas über die Hintergründe erfahren und Ihre Meinung darüber, wie die Sache wohl ausgehen wird.«
»Zu Befehl, Herr General, hier kommt die ganze Geschichte! Der Wolf, der bei uns Berserker hieß, war einer von drei grauen, die Jamrach 4 aus Norwegen hatte. Wir haben sie ihm vor vier |203| Jahren abgekauft. Es war ein schöner, gutartiger Wolf, der nie Ärger machte. Ich hätte hier eher jedem anderen Tier einen Ausbruch zugetraut als ihm. Nun, Wölfen kann man ebenso wenig trauen wie Weibern.«
»So was dürfen Sie bei ihm nicht allzu ernst nehmen, Sir!«, warf Mrs. Bilder mit fröhlichem Lachen ein. »Er hat sich schon so lange mit seinen Tieren abgegeben, dass er darüber selbst ein alter Wolf geworden ist. Aber er ist trotzdem ganz harmlos.«
»Also, Sir, es war gestern, etwa zwei Stunden
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