Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
40 Minuten statt 20 Minuten zu buchen. Ich sage, ich werde es mir überlegen. Im Wartezimmer zapfe ich einen Cappuchino aus der Designer-Kaffeemaschine. Und genieße das Plätschern des Brunnens im Hof, die duftenden Massage-Öle, die flauschige Liege. Fast wäre es Wellness, wenn die Therapie nicht so schmerzhaft wäre. Aufjaulen. »Die Quälerei fängt erst an, wenn mal dieser Walker weg ist«, sagt die Therapeutin.
Auf den Tag genau zwei Monate nach der Verletzung fahre ich zum ersten Mal wieder selbst Auto. Ich drehe das Radio laut auf und singe mit. Statt 23 Minuten brauche ich nur sieben zur Physiotherapie. Mit meinem neuen, Dr.-House-mäßigen Krückstock humple ich zur Post und erstmals wieder in den Supermarkt. Das letzte Mal, als ich dort war, gab es Grillfleisch, Dipsaucen und Eiscreme en masse. Jetzt grüßen aus den Regalen Kürbisse, Federweißer und Lebkuchen. Eine neue Saison hat begonnen, auch für mich.
Physiotherapeutin und Orthopäde sind einigermaßen zufrieden mit dem Heilungsfortschritt. Bis ich wieder springen kann, wird es noch dauern, aber ich werde wahrscheinlich nicht gehbehindert bleiben. Wahrscheinlich. Wäre ich Sportlehrerin, Hüttenwirtin oder Gärtnerin, müsste ich mich eventuell beruflich anders orientieren. Ein falscher Schritt, und aus der Mitte des Lebens kann es einen an den Rand befördern – noch eine Lektion, die ich gelernt habe, eine von vielen. Ich hoffe, einige von diesen mitnehmen zu können, wenn ich jetzt in meine gewohnte Normalität zurückkehre, um denjenigen besser und gerechter begegnen zu können, denen meine Normalität versperrt ist.
Maria und Josef im Ghetto des Geldes – Von Henning Sußebach
Henning Sußebach ist Redakteur bei der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit . Für seine Reportagen, Features und Dossiers ist er vielfach ausgezeichnet worden, etwa 2007 mit dem Egon-Erwin-Kisch Preis, 2006 mit dem Henri-Nannen-Preis für besonders verständliche Berichterstattung und 2001 ebenso wie 2002 mit dem Axel-Springer-Preis für Nachwuchsjournalisten.
Die wohlhabendsten Deutschen mit den teuersten Häusern leben im Taunus bei Frankfurt: Banker, Manager, Industrielle. Was passiert, wenn man sie um Hilfe bittet? Die Schauspielerin Viola Heeß und unser Redakteur Henning Sußebach haben sich – als obdachloses Paar verkleidet – kurz vor Weihnachten auf den Weg gemacht.
Wo anfangen in diesem Ort, in dem alles klingt, als habe es für Monopoly Modell gestanden: Im Schlosshotel? Auf der Parkstraße? Im Golfclub? Auf der Burg? Oder doch beginnen bei dem Zweifel, der uns auf dem Weg von Frankfurt hinauf in den Taunus begleitet hat, hartnäckig wie ein zugelaufener Hund: Darf man mit einer Lüge nach der Wahrheit suchen?
Es ist ein Dienstagmorgen im Advent, kalt und grau. Wir sind mit der S-Bahn-Linie 4 gekommen, heraus aus Frankfurts Hochhauskulisse, durch das Gewürfel der Gewerbegebiete, vorbei an Streuobstwiesen und Pferdekoppeln, immer steiler bergan bis zur Endstation: Kronberg im Taunus, von Nebel verschleiert. Ein deutsches Wolkenkuckucksheim.
Eine Statistik hatte uns hergelockt. Die Gesellschaft für Konsumforschung hat errechnet: Die reichsten Deutschen – jene mit der größten Kaufkraft – leben nicht auf Sylt und nicht am Starnberger See, sondern an den Hängen des Hochtaunuskreises. Industriellenfamilien und Bankiers, Millionäre und Milliardäre.
Wir steigen aus und hauchen Atemwölkchen. Wir, das sind: Viola Heeß, freiberufliche Schauspielerin aus Hamburg, und ich, ein Zeit -Redakteur – von nun an für eine Woche ein Paar in zertretenen Schuhen und zerschlissener Kleidung, beladen mit Rucksack und Plastiktüten, bereit für ein Experiment. Verkleidet als Obdachlose, ohne einen Euro in der Tasche, wollen wir die Menschen hier oben um Hilfe und Herberge bitten. Das Krippenspiel von Kronberg beginnt.
So ziehen wir los. Zwei wertmindernde Gestalten in Straßen voller Hochpreisimmobilien, wo jedes Haus ein rotes Alarmanlagen-Hütchen trägt, wo die Garagentore so breit sind wie Fußballtore und die Springbrunnen auch im Winter plätschern.
Woran genau erkennt man Reichtum in einem wohlhabenden Land? An Lieferwagen, auf denen »Ihr Schwimmbadwasser« steht? An philippinischen Kindermädchen, die Buggys durch die Stadt bugsieren? An der Tatsache, dass Grundschüler auf ihrem Heimweg starr an zwei Menschen vorbeiblicken, die anders aussehen als Mutti und Vati? An einer Upper-Class-Vereinskultur, von der Aushänge von Theatergruppen,
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