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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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einmal, von seinen Appellen gerührt, jeder Jüngling ein Skopze werden und sich das Geschlecht verschneiden? Man sieht: er, Tolstoi, übertreibt wie ein Tollwütiger und übertreibt aus schlechtem Gewissen, damit man nicht merke, daß er sich's mit seinen »Beweisen« doch zu billig gemacht hat. Manchmal allerdings scheint eine Ahnung, daß dieser lärmende Nonsens sich gerade durch sein Unmaß erledige, ihm selbst im kritischen Untergrund seines Bewußtseins gedämmert zu haben, »ich hege wenig Hoffnung, daß man meine Beweise akzeptiert oder auch nur ernst diskutiert«, schreibt er einmal und hat in fürchterlicher Weise recht, denn sowenig man zu Lebzeiten mit diesem angeblich Nachgiebigen diskutieren konnte – »Man kann Leo Tolstoi nicht überzeugen«, seufzt seine Frau, und »seine Eigenliebe erlaubt ihm niemals, einen Fehler einzugestehen«, berichtet seine beste Freundin –, so unsinnig täte man, Beethoven, Shakespeare gegen Tolstoi ernstlich zu verteidigen: wer Tolstoi liebt, wendet sich am besten dort ab, wo der alte Mann zu offenkundig seine logische Blöße enthüllt. Nicht eine Sekunde hat irgendein ernst zu nehmender Mensch daran gedacht, auf diese theologischen Ausbrüche Tolstois hin tatsächlich zweitausend Jahre Kampfes um Durchgeistigung des Lebens plötzlich abzudrehen wie einen Gashahn und unsere heiligsten Werte auf den Müllhaufen zu werfen. Denn unser Europa, dem eben erst ein Nietzsche als Denker zugeboren war, dem einzig die Geistfreude unsere schwere Erde wahrhaft wohnlich macht, dieses Europa hatte, weiß Gott, nicht Lust, sich plötzlich auf ein moralischesKommando hin prompt verbauern, versimpeln und mongolisieren zu lassen, gehorsam in die Kibitka zu kriechen und eine herrliche Geistvergangenheit als »sündigen« Irrtum abzuschwören. Es war und wird immer respektvoll genug sein, den vorbildlichen Ethiker Tolstoi, den heroischen Anwalt des Gewissens, nicht zu verwechseln mit seinen verzweifelten Versuchen, eine Nervenkrise in Weltanschauung, eine Klimakteriumsangst in Nationalökonomie umzusetzen, immer werden wir unterscheiden zwischen den großartigen moralischen Impulsen, die dem heldischen Leben dieses Künstlers entwuchsen, und dem bauernzornigen Kulturexorzismus des in Theorie geflüchteten Greises. Tolstois Ernst und Sachlichkeit hat in unvergleichlicher Weise das Gewissen unserer Generation vertieft, seine depressiven Theorien aber stellen ein einziges Attentat auf die Freudigkeit des Daseins dar, ein mönchisch asketisches Rückstoßenwollen unserer Kultur in ein nicht mehr rekonstruierbares Urchristentum, ersonnen von einem Nichtmehr-Christen und darum überchristlichen Menschen. Nein, wir glauben nicht, daß »die Enthaltsamkeit das ganze Leben bestimmt«, daß wir unserer durchaus diesseitigen Weltleidenschaft das Blut aus den Adern zapfen sollen und uns einzig mit Pflichten und Bibelsprüchen bebürden: wir mißtrauen einem Deuter, der nichts weiß von der zeugenden kraftbelebenden Macht der Freude, als einem bewußten Verarmer und Verdunkler unserer freien Sinnenspiele und des sublimsten und seligsten: der Kunst. Wir wollen nichts von den Errungenschaften des Geistes und der Technik, nichts von unserem abendländischen Erbe wieder hergeben, nichts: nicht unsere Bücher, unsere Bilder, unsere Städte, unsere Wissenschaft, keinen Zoll und kein Gran unserer sinnlichen, sichtbaren Wirklichkeit für irgendein Philosophem, und am wenigsten für ein rückschrittliches, depressives, das uns in die Steppe und geistige Dumpfheit zurückdrängte. Für keine himmlische Seligkeit tauschen wir die verwirrende Fülle unseres Daseins von heute gegen irgendeine enge Einfachheit: wir wollen frech lieber »sündig« sein als primitiv, lieber leidenschaftlich als dumm und bibelbrav. Darum hat Europa das ganze Bündel der soziologischen Tolstoi-Theorien einfach in den literarischen Aktenschrank gelegt, respektvoll vor seinem vorbildlichen ethischen Willen, aber doch weggelegt für heute und immer. Denn selbst inseiner höchsten religiösen Form, selbst getragen von einem so herrlichen Geiste, kann Rückläufiges und Reaktionäres nie schöpferisch werden, und was aus persönlicher Verwirrung der Seele stammt, niemals die Weltseele entwirren. Nochmals und endgültig darum: der stärkste kritische Umpflüger unserer Zeit, ist Tolstoi nicht mit einem Korn Sämann unserer europäischen Zukunft geworden und hierin ganz Russe, ganz Genius seiner Rasse und seines Geschlechts.
    Denn gewiß ist

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