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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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gerechtfertigt sei. Mag sein, nie ist sich vielleicht der religiöse Träumer Tolstoi der praktischen Konsequenzen seines Bildersturms bewußt geworden, nie hat er wahrscheinlich durchzurechnen gewagt, wieviel irdische Existenzen der plötzliche Einsturz solch eines himmelweiten Weltgebäudes mit sich reißen würde – er hat einzig mit aller Seelenkraft und Starrnäckigkeit seiner Überzeugung an den Säulen des sozialen Staatsgebäudes gerüttelt. Und wenn einsolcher Simson seine Fäuste reckt, neigt und beugt sich auch das riesigste Dach. Darum bleiben alle nachzüglerischen Debatten, inwieweit Tolstoi bolschewistischen Umsturz gebilligt oder befeindet hätte, überflüssig gegen das nackte Faktum, daß nichts die russische Revolution geistig so sehr gefördert hat wie die fanatischen Bußpredigten Tolstois gegen Überfluß und Besitz, die Petarden seiner Broschüren, die Bomben seiner Pamphlete. Keine Kritik der Zeit, auch jene Nietzsches nicht, der als Deutscher doch immer nur auf die Gebildeten zielte und schon durch seine dichterisch-dionysische Diktion sich jeden Masseneinfluß versperrte, hat derart seelenaufwühlend und glaubensumstürzend in die breite Volksmasse gewirkt; und wider seinen Wunsch und Willen steht Tolstois Herme für alle Zeiten im unsichtbaren Pantheon der großen Revolutionäre, der Machtumstürzer und Weltverwandler.
    Wider seinen Wunsch und Willen: denn Tolstoi hat deutlich seine christlich-religiöse Revolution, seinen Staatsanarchismus von jeder aktiven und gewalttätigen abgesondert. Er schreibt in den »Reifen Ähren«: »Wenn wir Revolutionären begegnen, täuschen wir uns häufig in der Meinung, daß wir und sie uns berühren. Sie und auch wir rufen: keinen Staat, kein Eigentum, keine Ungleichheit und vieles andere. Dennoch besteht da ein großer Unterschied: für den Christen gibt es keinen Staat – jene aber wollen den Staat vernichten. Für den Christen gibt es kein Eigentum – jene wollen es abschaffen. Für den Christen sind alle gleich – sie wollen die Ungleichheit zerstören. Die Revolutionäre kämpfen mit der Regierung von außen, das Christentum kämpft aber gar nicht , es zerstört die Fundamente des Staates von innen.« Man sieht, Tolstoi wollte nicht den Staat mit Gewalt vernichtet wissen, sondern durch die Passivität unzähliger Einzelner, langsam in seiner Autorität geschwächt, indem sich Molekül nach Molekül, ein Individuum nach dem andern seiner Umklammerung so lange entzieht, bis endlich der Staatsorganismus infolge Entkräftung sich selbst auflöst. Der schließliche Effekt aber bleibt doch der gleiche: Zerstörung aller Autorität, und dieser Anstrengung hat Tolstoi ein Leben lang leidenschaftlich gedient. Allerdings wollte er zugleich eine neue Ordnung, eine Staatskirche dem Staat, eine humanere, brüderlichere Lebensreligion begründen, das altneue und urchristliche, dastolstoi-christliche Evangelium. Aber bei der Wertung dieser aufbauenden geistigen Leistung muß – Redlichkeit über alles! – mit dem Messer ein Schnitt gemacht werden zwischen dem genialen Kulturkritiker, dem irdischen Augengenie Tolstoi und dem verwaschenen, unzulänglichen, launenhaften, inkonsequenten Moralisten, dem Denker Tolstoi, der in einem pädagogischen Anfall nicht mehr wie in den sechziger Jahren bloß die Bauernjungen von Jasnaja Poljana in die Schule treiben, sondern ganz Europa das große Abc des einzig »richtigen« Lebens, »die« Wahrheit mit einem erschreckenden Maß von philosophischer Leichtfertigkeit eindrillen will. Kein Respekt beugt sich tief genug vor Tolstoi, solange er, der unbeflügelt Geborene, in seiner Sinnenwelt verharrt und mit seinen genialen Organen die Struktur des Menschlichen zerlegt; aber sobald er flughaft frei ins Metaphysische will, wo seine Sinne nicht mehr zupacken, sehen und saugen können, wo all diese sublimen Fangarme zwecklos im Leeren tasten, da erschrickt man geradezu über seine geistige Unbehilflichkeit. Nein, nicht vehement genug kann hier abgegrenzt werden: Tolstoi als theoretischer, als systematischer Philosoph war eine ebenso bedauerliche Selbsttäuschung wie Nietzsche, sein Polargenie, als Komponist. Genau wie Nietzsches Musikalität, die innerhalb der Sprachmelodik herrlich produktive, in selbständiger Tonsphäre, also kompositorisch, beinahe kläglich versagt, so stockt der eminente Verstand Tolstois sofort, wenn er über die sinnlich kritische Sphäre ins Theoretische, ins Abstrakte sich hinüberwagt. Man kann bis ins

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