Drei Dichter ihres Lebens
die Erde pflügt und das Brot bäckt und seine Stiefel schustert, dann gibt es keinen Staat mehr und keine Religionen, nur das reine Reich Gottes auf Erden. Dann ist »Gott die Liebe und die Liebe der Zweck des Lebens«. Also weg mit allen Büchern, nicht mehr denken, nicht mehr geistig schaffen, es genügt »die« Liebe, und schon morgen kann alles verwirklicht sein, »wenn die Menschen nur wollten«.
Man scheint zu übertreiben, wenn man den nackten Inhalt der Tolstoischen Welttheologie wiedergibt. Aber leider ist's er selbst, der in seinem Proselyteneifer so ärgerlich übertreibt. Wie schön, wie klar, wie unwidersprechlich ist sein Lebensgrundgedanke, das Evangelium der Gewaltlosigkeit: Tolstoi fordert von uns allen Nachgiebigkeit, eine geistige Demut. Er mahnt uns, um den unausweichlichen Konflikt zwischen der immer steigenden Ungleichheit der sozialen Schichten zu vermeiden der Revolution von unten zuvorzukommen, indem wir sie freiwillig von oben beginnen und durch rechtzeitige urchristliche Nachgiebigkeit die Gewalt ausschalten. Der Reiche soll seinen Reichtum, der Intellektuelle seinen Hochmut preisgeben, die Künstler ihren elfenbeinernen Turm verlassen und durch Verständlichkeit sich dem Volke nähern,wir sollen unsere Leidenschaften, unsere »tierische Persönlichkeit« bezähmen und statt der Gier, zu nehmen, die heiligere Fähigkeit des Gebens in uns entwickeln. Erhabene Forderungen, gewiß, uralt geheischte von allen Evangelien der Welt, ewige Forderungen, weil um des Aufstiegs der Menschheit willen ewig wieder neu zu heischende. Aber Tolstois maßlose Ungeduld begnügt sich nicht wie jene religiösen Naturen, sie als moralische Höchstleistung des einzelnen zu postulieren; er verlangt, der herrisch Ungeduldige, zornig diese Sanftmut sofort und von allen. Er fordert, daß wir auf sein religiöses Kommando hin sofort alles aufgeben, hingeben, preisgeben, womit wir gefühlsmäßig verbunden sind; er heischt (ein Sechzigjähriger) von den jungen Menschen Enthaltsamkeit (die er als Mann selbst nie geübt), von den Geistigen Gleichgültigkeit, ja Verachtung der Kunst und Intellektualität (der er selbst sein ganzes Leben gewidmet); und um uns nur ganz rasch, ganz blitzschnell zu überzeugen, an wie Nichtiges unsere Kultur sich verliert, demoliert er mit wütigen Faustschlägen unsere ganze geistige Welt. Nur um uns die vollkommene Askese verlockender zu machen, bespeit er unsere ganze gegenwärtige Kultur, unsere Künstler, unsere Dichter, unsere Technik und Wissenschaft, er greift zu knüppeligster Übertreibung, zu faustdicken Unwahrheiten, und zwar beschimpft und erniedrigt er immer zuerst sich selbst, um freien Anlauf zur Attacke gegen alle andern zu haben. So kompromittiert er die edelsten ethischen Absichten durch eine wilde Rechthaberei, der keine Übersteigerung zu maßlos, keine Täuschung zu plump ist. Oder glaubt wirklich jemand, Leo Tolstoi, den ein Leibarzt täglich behorchte und begleitete, betrachte tatsächlich die Heilkunde und die Ärzte als »unnötige Dinge«, das Lesen als eine »Sünde«, die Reinlichkeit als »überflüssigen Luxus«? Hat er, dessen Werke ein Regal füllen, wirklich als ein »unnützer Schmarotzer«, als »Blattlaus« sein Leben verbracht, wirklich in der parodistisch übertreiblichen Weise, wie er selbst es folgendermaßen schildert? »Ich esse, schwatze, höre zu, ich esse wieder, schreibe und lese, das heißt, ich rede und höre wieder zu, dann esse ich abermals, spiele, esse und rede wieder, dann esse ich nochmals und gehe ins Bett.« Ist tatsächlich solcherart »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« entstanden? Bedeutet ihm wirklich, ihm, dem dieTränen überströmen, kaum daß einer Sonaten Chopins spielt, die Musik wie bornierten Quäkern nichts als des Teufels Dudelsack? Hält er wirklich Beethoven für einen »Verführer zur Sinnlichkeit«, Shakespeares Dramen für »zweifellosen Unsinn«, Nietzsches Werk für ein »grobspuriges, sinnlos emphatisches Geschwätz«? Oder Puschkins Werke nur »dafür gut, um als Zigarettenpapier für das Volk zu dienen«? Ist ihm die Kunst, der er herrlicher als irgendeiner gedient, tatsächlich nur ein »Luxus müßiger Menschen« und der Schneider Grischa und der Schuhmacher Pjotr ihm in Wahrheit höhere ästhetische Instanz als ein Urteil Turgenjews oder Dostojewskis? Glaubt er ernstlich, er, der selbst »ein unermüdlicher Hurer in seiner Jugend war« und dann im Ehebett noch dreizehn Kinder zeugte, nun würde auf
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