Drei Dichter ihres Lebens
mit Ihnen darin übereinstimmen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können. Das vermögen nur wohlerzogene, immer satte Leute zu sagen. Was wollen Sie aber jenen gegenüber vorbringen, die von Kindheit auf hungern und ihr ganzes Leben hindurch unter dem Joch von Tyrannen schmachten? Sie werden kämpfen und sich bemühen, die Sklaverei loszuwerden. Und ich sage es Ihnen am Vorabende Ihres Todes, Leo Nikolajewitsch, die Welt wird noch im Blute ersticken, und man wird mehr als einmal nicht nur die Herren, ohne Unterschied des Geschlechtes, sondern auch ihre Kinder erschlagen und in Stücke reißen, damit die Erde auch von diesen nichts Schlimmes mehr zu gewärtigen habe. Ich bedaure, daß Sie diese Zeit nicht mehr erleben werden, damit Sie selbst Augenzeuge Ihres Irrtums sein könnten. Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tod.«
Niemand weiß, wer diesen wetterleuchtenden Brief geschrieben. War es Trotzki, Lenin oder irgendeiner der namenlosen Revolutionäre, die in der Schlüsselburg vermoderten: wir werden es nie erfahren. Aber vielleicht hat in diesem Augenblick Tolstoi schon gewußt, daß seine Lehre Rauch und Vergeblichkeit wider die Wirklichkeit gewesen, daß die wirre und wilde Leidenschaft allezeit mächtiger sein wird unter den Menschen als die brüderliche Güte. Sein Antlitz wurde – so erzählen die Zeugen – ernst in diesem Augenblick. Er nahm das Blatt und ging damit nachdenklich in sein Zimmer, eine Schwinge der Ahnung kühl um das alternde Haupt.
Der Kampf um Verwirklichung
Es ist leichter, zehn Bände Philosophie zu schreiben, als einen einzigen Grundsatz in der Praxis durchzuführen. Tagebuch 1847
Im Evangelium, das Leo Tolstoi in jenen Jahren so beharrlich durchblättert, wird er nicht ohne Erschütterung das prophetische Wort gelesen haben: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, denn dies Schicksal erfüllt sich nun in seinem eigenen Leben. Niemals wirft ohne Sühne ein einziger Mensch, und am wenigsten ein gewaltiger, seine geistige Unruhe in die Welt: tausendfältig schwillt im Rückstoß der Aufruhr wider die eigene Brust. Heute, da längst die Diskussion ausgekühlt ist, vermögen wir gar nicht mehr zu ermessen, welche fanatische Erwartung im ersten Anruf die Botschaft Tolstois in der russischen und darüberhin in der ganzen Welt entzündete: ein Seelenaufruhr muß es gewesen sein, gewaltsame Erweckung eines ganzen Volksgewissens. Vergebens, daß die Regierung, von solch umstürzender Wirkung erschreckt, die polemischen Schriften Tolstois hastig verbietet, in Schreibmaschinenkopien schleichen sie von Hand zu Hand, sie werden eingeschmuggelt dank ausländischer Ausgaben; und je kühner Tolstoi die Elemente der bisherigen Ordnung, den Staat, den Zaren, die Kirche angreift, je glühender er eine bessere Weltordnung für die Mitmenschheit postuliert, um so strömender wendet sich das jeder Heilsbotschaft offene Herz der Menschheit ihm entgegen. Denn trotz Eisenbahn, Radio und Telegraph, trotz Mikroskop und aller technischen Magie hat unsere sittliche Welt sich genau dieselbe messianische Erwartung eines höheren moralischen Zustandes bewahrt wie in den Tagen Christi, Mohammeds oder Buddhas; unaustilgbar lebt und bebt in der ewig wunderwilligen Massenseele eine immer wieder erneute Sehnsucht nach einem Führer und Lehrer
. Immer darum, wenn ein Mensch, ein einzelner, sich mit einer Verheißung an die Menschheit wendet, rührt er an den Nerv dieser Glaubenssehnsüchtigkeit, und eine unendliche aufgestaute Opferbereitschaft pocht jedem entgegen, der den Mut auf sich nimmt, aufzustehen und das verantwortlichste Wort zu wagen: »Ich weiß um die Wahrheit.«
So wenden sich aus ganz Rußland Millionen Seelenblickezu Ende des Jahrhunderts Tolstoi entgegen, kaum daß er seine apostolische Botschaft ankündigt. Die »Beichte«, für uns längst bloß noch ein psychologisches Dokument, berauscht die gläubige Jugend wie eine Verkündigung. Endlich, so jubeln sie, hat einmal ein Gewaltiger und Freier und überdies der größte Dichter Rußlands als Forderung ausgesprochen, was bisher nur die Enterbten klagten, die halb Leibeigenen heimlich flüsterten: daß die gegenwärtige Ordnung der Welt ungerecht, unmoralisch und darum unhaltbar sei und eine neue, bessere Form gefunden werden müsse. Ein unverhoffter Impuls ist allen Unzufriedenen geworden, und zwar nicht von einem der professionellen Fortschrittsphraseure, sondern von einem unabhängigen und
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