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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Boris Pasternak
     
    Doktor Shiwago
     
    Deutsch von Thomas Reschke
     
    Erstes Buch
     
    Erster Teil
     
    Der Fünf-Uhr-Schnellzug
     
    Sie gingen und gingen und
sangen das »Ewige Gedenken«, und jedesmal, wenn sie innehielten, schienen die
Füße, die Pferdehufe, die Windstöße den Gesang harmonisch fortzusetzen.
    Die Passanten ließen den
Trauerzug vorüber, zählten die Kränze, bekreuzigten sich. Neugierige folgten
der Prozession, fragten: »Wer wird beerdigt?« Sie bekamen zur Antwort:
»Shiwago.« Aha. Verstehe. »Doch nicht er. Seine Frau.« Dennoch. Gott schenke
ihr das Himmelreich. Ein reiches Begräbnis.
    Die letzten Minuten verflogen,
gezählt, unwiederbringlich. »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist; der
Erdboden und was darauf wohnt.« Der Geistliche warf mit kreuzschlagender Geste
eine Handvoll Erde auf Maria Nikolajewna Shiwago. »Im Geiste der Gerechten«
wurde angestimmt. Dann hatten es alle schrecklich eilig. Der Sarg wurde
geschlossen, zugenagelt, hinabgesenkt. Ein Regen von Erdklumpen prasselte auf
ihn herab, vier Spaten schaufelten hastig das Grab zu. Darauf wuchs ein
Hügelchen. Auf dieses stieg ein zehnjähriger Junge.
    Nur im Zustand der
Abgestumpftheit und Fühllosigkeit, der am Ende großer Beerdigungen einzutreten
pflegt, konnte man den Eindruck gewinnen, daß der Junge auf dem Grab seiner
Mutter eine Rede halten wollte.
    Er hob den Kopf und ließ von
seinem erhöhten Standpunkt aus abwesend den Blick über die herbstlichen Weiten
und die Kuppeln des Klosters gleiten. Sein stupsnasiges Gesicht verzerrte sich.
Sein Hals reckte sich hoch. Bei einem Wolfsjungen würde man an dieser Bewegung
erkannt haben, daß es losheulen wollte. Der Junge hielt die Hände vors Gesicht
und schluchzte. Eine auf ihn zufliegende Wolke peitschte ihm mit den nassen
Ruten eines kalten Platzregens Gesicht und Hände. An das Grab trat ein Mann in
Schwarz mit eng anliegenden faltenziehenden Ärmeln. Es war der Bruder der
Verstorbenen und der Onkel des weinenden Jungen, der auf eigenen Wunsch aus dem
Priesterstand ausgeschiedene Nikolai Nikolajewitsch Wedenjapin. Er nahm den
Jungen bei der Hand und führte ihn vom Friedhof.
     
    Sie übernachteten in einem der
Klosterräume, der Wedenjapin als altem Bekannten zugewiesen wurde. Tags darauf,
an Maria Schutz und Fürbitte, sollten Onkel und Neffe eine weite Reise in den
Süden antreten, in eine der Gouvernementsstädte im Wolgaland, wo Vater Nikolai
in einem Verlag arbeitete, der die progressive Zeitung der Region herausgab.
Die Fahrkarten waren gekauft, die Sachen gepackt, sie standen in der
Klosterzelle. Vom nahen Bahnhof trug der Wind die weinerlichen Pfeifkonzerte
der dort rangierenden Lokomotiven herüber.
    Gegen Abend wurde es sehr
kalt. Die beiden ebenerdigen Fenster blickten in einen Winkel des kümmerlichen
Gartens mit gelben Akazienbüschen, auf die gefrorenen Pfützen der Landstraße
und auf den Teil des Friedhofs, wo Maria Shiwago am Tage beigesetzt worden war.
Der Garten war leer bis auf ein paar Reihen Kohl, der in der Kälte bläulich schimmerte.
Die fast kahlen Akazienbüsche schwankten bei jedem Windstoß wie Besessene und
legten sich auf die Straße. In der Nacht erwachte Jura von einem Klopfen ans
Fenster. Die dunkle Zelle war überirdisch erleuchtet von weißem Flackerlicht.
Jura lief im Nachthemd zum Fenster und drückte das Gesicht an die kalte
Scheibe.
    Draußen gab es weder die
Straße noch den Friedhof, auch nicht den Garten. Ein Schneesturm tobte, die
Luft rauchte von Schneestaub. Man konnte denken, der Sturm hätte Jura bemerkt
und genösse im Bewußtsein seiner Schrecklichkeit den Eindruck, den er auf den
Jungen machte. Er pfiff und heulte und trachtete mit allen Mitteln, Juras
Aufmerksamkeit zu erregen. Vom Himmel senkte sich Bahn um Bahn ein endloses
weißes Gewebe auf die Erde herab und hüllte sie in Leichentücher. Der
Schneesturm war ganz allein auf der Welt, und nichts konnte es mit ihm
aufnehmen.
    Jura stieg vom Fensterbrett
herunter. Am liebsten hätte er sich angezogen und wäre hinausgelaufen, um etwas
zu tun. Vielleicht erschreckte ihn, daß der Kohl des Klosters ungeerntet
zugeweht wurde, vielleicht auch, daß es seine Mutter zuschneite, daß sie
wehrlos war und sie noch tiefer, weiter weg von ihm, in die Erde sank.
    Wieder kamen ihm die Tränen.
Der Onkel wachte auf, sprach zu ihm von Christus und tröstete ihn.
    Dann gähnte er, trat ans
Fenster und überlegte. Sie zogen sich an. Es tagte.
     
    Als Juras Mutter noch

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