Drei Dichter ihres Lebens
sein Zimmer hinein. Er möchte verfolgt sein, eingesperrt und geknutet – »es ist mir peinlich, in Freiheit zu leben« –, aber mit Sammetpfötchenweichen die Behörden ihm aus und begnügen sich damit, einzig seine Anhänger zu knuten und nach Sibirien zu schicken. So greift er zum Äußersten und beschimpft schließlich den Zaren, um endlich bestraft, verschickt, verurteilt zu werden, endlich einmal öffentlich die Revolte seiner Überzeugung zu büßen; jedoch Nikolaus II. entgegnet dem Beschwerde führenden Minister: »Ich bitte, Leo Tolstoi nicht anzurühren, ich habe nicht die Absicht, einen Märtyrer aus ihm zu machen.« Dies aber, gerade dies, Märtyrer seiner Überzeugung, wollte Tolstoi in den letzten Jahren durchaus werden, und gerade dies gestattet ihm das Schicksal nicht, ja, es entfaltet eine geradezu boshafte Fürsorge gegen diesen Leidenswilligen, daß ihm nur kein Leid geschehe. Wie ein Rasender, irrsinnig in seiner Gummizelle, so schlägt er im unsichtbaren Gefängnis seines Ruhms um sich; er bespeit seinen eigenen Namen, er schneidet dem Staat, der Kirche und allen Mächten grimmige Fratzen – aber man hört ihm höflich zu, den Hut in der Hand, und schont ihn als einen hochgeborenen und ungefährlichen Irren. Niemals gelingt ihm die sichtliche Tat, der endgültige Beweis, das ostentative Märtyrertum. Zwischen seinen Willen zur Kreuzigung und die Verwirklichung hat der Teufel den Ruhm gestellt, der alle Schläge des Schicksals auffängt und das Leiden nicht an ihn herankommen läßt.
Warum aber – so fragt ungeduldig das Mißtrauen aller seiner Anhänger und höhnisch der Spott seiner Gegner –, warum zerreißt Leo Tolstoi nicht mit entschlossenem Willen diesen peinlichen Widerspruch? Warum fegt er nicht das Haus rein von Reportern und Photographen, warum duldet er den Verkauf seiner Werke durch die Familie, warum gibt er statt dem eigenen immer wieder dem Willen seiner Umgebung nach, die in vollkommener Mißachtung seiner Forderungen unentwegt Reichtum, Behagen als höchste Güter der Erde anspricht? Warum handelt er nicht endlich eindeutig und klar nach dem Gebot seines Gewissens? Tolstoi hat selbst den Menschen auf diese furchtbare Frage nie geantwortet und niemals sich entschuldigt, im Gegenteil, keiner der müßigen Schwätzer, die mit schmutzigen Fingern auf den taghellen Widerspruch zwischen Wille und Wirksamkeit hindeuteten, verurteilte die Halbheit seines Handelns oder vielmehr seines Nichthandelns härter als er selbst. 1908 schreibt er in seinTagebuch: »Wenn ich von mir als von einem Fremden reden hörte: ein Mensch, der in Luxus lebt, alles, was er kann, den Bauern nimmt, sie verhaften läßt und dabei das Christentum bekennt und predigt, Fünfkopekenstücke als Almosen austeilt und sich bei all seinen gemeinen Handlungen hinter seine liebe Frau verkriecht – ich würde mich nicht bedenken, einen solchen Menschen als Schuft zu bezeichnen! Und eben das müßte auch mir gesagt werden, damit ich mich von den Eitelkeiten der Welt lossage und nur der Seele lebe.« Nein, einen Leo Tolstoi brauchte niemand über seine moralischen Zweideutigkeiten aufzuklären, er zerriß sich selbst täglich die Seele an ihnen. Wenn er sich, im Tagebuch, die Frage ins Gewissen stößt, rotglühenden Brandstahl: »Sag, Leo Tolstoi, lebst du nach den Grundsätzen deiner Lehre?«, so antwortet die ingrimmige Verzweiflung: »Nein, ich sterbe vor Scham, ich bin schuldig und verdiene Verachtung«. Er war sich vollkommen darüber klar, daß nach seinem Glaubensbekenntnis zur Entbehrung logisch und ethisch nur eine einzige Lebensform für ihn möglich war: sein Haus zu verlassen, seinen Adelstitel, seine Kunst aufzugeben und als Pilger über die russischen Straßen zu ziehen. Zu diesem letzten notwendigsten und einzig überzeugenden Entschluß hat sich der Bekenner jedoch niemals aufraffen können. Aber gerade dies Geheimnis seiner letzten Schwäche, diese Unfähigkeit zum prinzipiellen Radikalismus, will mir Tolstois letzte Schönheit bedeuten. Denn Vollkommenheit ist immer nur jenseits des Menschlichen möglich; jeder Heilige, selbst der Apostel der Sanftmut, muß hart sein können, er muß die fast übermenschliche, die inhumane Forderung an die Jünger stellen, daß sie Vater und Mutter, Weib und Kind gleichgültig hinter sich lassen um der Heiligkeit willen. Ein konsequentes, ein vollkommenes Leben läßt sich immer nur im luftleeren Raum eines abgelösten Individuums verwirklichen, nie in Bindung und
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