1489 - Die Männerfalle
Beide Geschwister waren geschieden. Evelyn hatte nach ihrer Scheidung nicht gewusst, wo sie wohnen sollte. Da eine halbe Haushälfte als Erbteil der Eltern zur Verfügung stand, war sie bei ihrem Bruder eingezogen und sorgte für ihn.
Sie hatten sich zusammenraufen müssen, bis jeder die Eigenheiten des anderen akzeptierte.
Mit müden Augen blickte Evelyn auf ihre Uhr. Es war mal wieder spät geworden, nach Mitternacht. Wenn Reddy loszog, dann blieb er meist lange fort, und die Frau ärgerte sich jetzt, im Sessel eingeschlafen zu sein, denn bequem war das nicht. Sämtliche Knochen taten ihr weh.
Reddy hieß eigentlich Eric. Wegen seiner roten Haare war er schon von klein auf Reddy genannt worden, und so war man auch bei diesem Namen geblieben. Selbst Evelyn nannte ihn so.
Sie rieb ihre Augen, um wieder wach zu werden. Die Glotze schaltete sie aus. Ob Reddy nach oben in sein Zimmer gehen würde, stand noch nicht fest. Wenn er Licht sah, würde er ins Wohnzimmer gehen, um dort nachzuschauen. Noch traf er keinerlei Anstalten. Er hielt sich vor der Tür auf, und seine Schwester hörte ihn husten.
Oder war es ein Keuchen? Vermischt mit einem Stöhnen?
So genau war das nicht zu unterscheiden, aber es war ein Geräusch gewesen, das ihr nicht gefallen hatte. Es konnte sein, dass Reddy sich bereits auf dem Weg nach Hause übergeben hatte. Das wäre nicht das erste Mal gewesen.
Sie wartete auf ihn. Irgendwann würde er den Entschluss fassen, zu ihr ins Zimmer zu torkeln. Sollte es zu lange dauern, wollte sie aufstehen und selbst die Tür öffnen.
Eric wartete noch. Er stand vor der Tür und musste Probleme mit dem Gleichgewicht haben, denn sie hörte einen dumpfen Laut, als etwas von außen gegen das Türblatt schlug.
»Reddy!« rief sie und stand auf.
Er musste sie gehört haben, gab aber keine Antwort. Evelyn sah, dass sich die Klinge nach unten bewegte. Da die Tür nicht abgeschlossen war, würde Eric gleich bei ihr sein. Er drückte die Tür auch auf, und er tat es mit einer ungelenken Bewegung. Zusammen mit der Tür stolperte er in das Wohnzimmer hinein.
Seine Schwester schrie auf. Ihr Bruder bot einen Anblick, der sie schockte. Klar, er war betrunken, aber sein Aussehen hatte damit nichts zu tun. Sie erinnerte sich daran, dass er einen Mantel getragen hatte. Den trug er jetzt nicht mehr. Sie sah den dunkelbraunen Anzug mit den feinen Streifen. Das Jackett stand offen. Darunter war das weiße Hemd zu sehen oder das, was noch weiß war. Alles andere zeigte eine blutrote Farbe, und das Wort Blut passte perfekt, denn vom Hals ab bis hin zum Bauchnabel war der Stoff mit dem hellroten Blut des Mannes besudelt, und so bot Eric einen Anblick, der Evelyn entsetzte.
Sie hatte etwas sagen wollen. Das war ihr nun nicht mehr möglich.
Sie stand auf der Stelle und spürte ihr Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Ihre Gesichtszüge wirkten wie eingefroren, und in den Augen lag ein Ausdruck des Entsetzens.
Eric stützte sich an der schmalen Seite eines alten Schranks ab. Er stierte seiner Schwester ins Gesicht und stieß dabei keuchende und auch röchelnde Laute aus.
Sprechen konnte er nicht. Er schwankte, und Evelyn sah jetzt die Quelle des Bluts. Am Hals zeichneten sich die Wunden ab. Sie waren groß. Die Haut war aufgerissen worden, als hätte sie jemand in Streifen nach unten ziehen wollen.
Erst jetzt löste sich der Stau in ihrer Kehle, und sie war wieder in der Lage, etwas zu sagen. Dabei schüttelte sie den Kopf und brachte nur mühsam den Namen ihres Bruders hervor.
Der hatte sie gehört.
Er hob seinen Kopf an. Die linke Hand streckte er nach vorn, als wollte er nach seiner Schwester greifen. Dabei zuckten die Lippen und ebenfalls die blutige Haut am Hals.
»Mein Gott, was ist denn passiert?«
Laute wie Vogelkrächzen drangen aus seiner Kehle. Sein Gesicht war verzerrt, der Blick völlig verdreht, und plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Er schien seine Schwester erst jetzt richtig wahrgenommen zu haben und wollte zu ihr.
Es sah für die Frau aus, als würde er sich mit letzter Kraft vom Schrank abstoßen. Genau das war auch der Fall. Er ging nicht normal, er schwankte bei seinen Schritten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er sein Gleichgewicht verlieren würde, und zum Glück stand ihm kein Möbelstück mehr im Weg.
Er fiel trotzdem.
Evelyn lief ihm im richtigen Moment entgegen. Bevor er auf den Boden schlagen konnte, fing sie ihn auf. Sie hatte Glück, sich mit ihm zur Seite
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