Drei Dichter ihres Lebens
Nichts hat Stendhal zeitlebens so sehr ersehnt als handgreifliche Liebestriumphe (»L'amour a toujours été pour moi la plus grande des affaires ou plutôt la seule«), und vor niemandem, vor keinem Philosophen, keinem Dichter, nicht einmal vor Napoleon verrät er so viel wirklichen Respekt wie vor seinem Onkel Gagnon oder seinem Vetter Martial Daru, die unzählige Frauen besaßen, ohne irgendwelche geistige oder psychologische Kunstgriffe anzuwenden – oder vielleicht ebendarum, denn Stendhal kommt allmählich zur Erkenntnis, nichts hindere dermaßen den positiven Erfolg bei Frauen, wie wenn man sich selbst zu sehr mit Empfindung engagiere; »man hat nur Erfolge bei Frauen, wenn man sich nicht mehr Mühe gibt, sie zu haben, als eine Partie Billard zu gewinnen«, redet er sich schließlich ein. »J'ai trop de sensibilité pour avoir jamais le talent de Lovelace«; über kein Problem hat er dauerhafter, intensiver nachgedacht. Und gerade dieser seiner nervösen und mißtrauischen Selbstanatomie vom Erotischen her dankt er (undwir mit ihm) den vollkommenen Einblick in das feinste Faserwerk seiner Empfindungen. Nichts habe ihn, erzählt er selbst, dermaßen zur Psychologie erzogen, wie die amourösen Mißerfolge, die geringe Zahl seiner Eroberungen (die er im ganzen mit sechs oder sieben beziffert); hätte er wie andere Glück in der Liebe gehabt, nie wäre er genötigt gewesen, so beharrlich der Frauenpsyche, ihren feinsten, zartesten Emanationen nachzulauschen: an den Frauen hat Stendhal seine Seele überprüfen gelernt, auch hier schult eine Zurückgedrängtheit den Beobachter zum vollendeten Kenner.
Daß diese systematische Selbstbeobachtung Stendhals dann aber außergewöhnlich früh zur Selbstdarstellung führt, hat noch einen besonderen und höchst sonderbaren Grund: Stendhal hat ein schlechtes – oder besser gesagt, ein sehr eigenwilliges und kapriziöses Gedächtnis, jedenfalls ein unverläßliches, und deshalb läßt er den Bleistift nie aus der Hand. Ununterbrochen notiert und notiert er: an den Rand der Lektüre, auf lose Blätter, auf Briefe, vor allem in sein Tagebuch. Seine Furcht, wichtige Erlebnisse zu vergessen und so die Kontinuität seines Lebens (dieses einzigen Kunstwerkes, an dem er planhaft und dauerhaft arbeitet) zu unterbrechen, bewirkt, daß er jede Gefühlserregung, jedes Geschehnis immer sofort schriftlich fixiert. Er schreibt auf einen Brief der Gräfin Curial, einen erschütternden, von Schluchzen zerfetzten Liebesbrief, mit der steinernen Sachlichkeit eines Registrators das Datum, wann ihr Verhältnis begonnen und wann es geendet, er notiert, wann und um wieviel Uhr er Angela Pietragrua endlich besiegte; oft hat man den Eindruck, er beginne erst zu denken mit der Feder in der Hand. Dieser nervösen Graphomanie danken wir schließlich sechzig oder siebzig Bände Selbstdarstellung in allen erdenkbaren dichterischen, brieflichen und anekdotischen Äußerungen (noch heute kaum zur Hälfte publiziert). Nicht ein eitler oder exhibitionistischer Bekenntnisdrang, sondern die egoistische Angst, auch nur einen Tropfen jener nie wieder beschaffbaren Substanz Stendhal in seinem undichten Gedächtnis versickern zu lassen, hat uns eigentlich die Biographie Stendhals so vollkommen konserviert.
Diese Sonderbarkeit seines Gedächtnisses hat Stendhal wie alles, was ihm gehörte, mit einer hellseherischen Deutlichkeit analysiert. Zunächst stellte er fest, daß seinErinnerungsvermögen erzegotistisch ist. »Je manque absolument de mémoire pour ce qui ne m'intéresse pas.« Darum behält er so wenig vom Außerseelischen, keine Zahlen, keine Daten, keine Fakten, keine Orte; er vergißt von wichtigsten historischen Ereignissen alle Einzelheiten vollkommen; er merkt sich bei Frauen oder Freunden (selbst bei Byron und Rossini) nicht, wann er ihnen begegnet ist; aber fern, diesen Defekt zu leugnen, gibt er ihn unbedenklich zu: »je n'ai de prétention à la véracité qu'en ce qui touche mes sentiments«. Nur insoweit einmal seine Empfindung getroffen war, übernimmt Stendhal die Garantie für sachliche Wahrhaftigkeit; ausdrücklich »protestiert« er in einem seiner Werke »er vermesse sich niemals, die Realität der Dinge zu schildern, sondern einzig den Eindruck, den sie ihm hinterließen« (»je ne prétends pas peindre les choses en elles-mêmes, mais seulement leur effet sur moi«). Nichts beweist also deutlicher, daß für Stendhal die Geschehnisse an sich, »les choses en elles-mêmes«, gar nicht
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