Drei Dichter ihres Lebens
existent werden, sondern nur insoweit, als sie sich in Seelenerregung auswirken: dann freilich setzt dies absolut einseitige Gefühlsgedächtnis mit einer Schärfe ohnegleichen ein, und der vollkommen unsicher ist, ob er Napoleon jemals gesprochen, und nicht weiß, ob er sich an den Übergang über den Großen Sankt Bernhard wirklich erinnert oder bloß an einen Kupferstich, ebenderselbe Stendhal erinnert sich der flüchtigen Geste einer Frau, eines Tonfalls, einer Bewegung mit Diamantklarheit, insofern er einmal innerlich von ihr erregt gewesen. Überall, wo das Gefühl unbeteiligt blieb, lagern reglose dunkle Nebelschichten oft über Jahrzehnte – und sonderbarer noch, auch wo das Gefühl wiederum allzu vehement einsetzte, auch da ist bei Stendhal das Erinnerungsvermögen zerstört. Hundertemal und gerade in den spannendsten Augenblicken seines Lebens (bei der Schilderung des Alpenüberganges, der Reise nach Paris, der ersten Liebesnacht) wiederholt er die Feststellung: »Ich habe daran keine Erinnerung mehr, die Empfindung war zu vehement.« Außerhalb dieser also eng begrenzten Gefühlssphäre ist Stendhals Gedächtnis (und damit auch seine Künstlerschaft) niemals einwandfrei: »Je ne retiens que ce qui est peinture humaine. Hors de là je suis nul«: einzig seelenbetonte Eindrücke halten bei Stendhal dem Vergessen stand. Darum vermag dieser entschiedenste Egozentriker selbstbiographischniemals Weltzeuge zu sein; er kann sich eigentlich nicht zurück denken , er kann sich nur zurück fühlen . Auf dem Umweg über den Reflex in seiner Seele – nicht also direkt – rekonstruiert er sich den tatsächlichen Ablauf »il invente sa vie«: statt zu finden, erfindet, erdichtet er sich die Tatsachen aus der Erinnerung des Gefühls. So eignet seiner Selbstbiographie etwas Romanhaftes sowie seinen Romanen etwas Selbstdarstellerisches; man erwarte sich nie von ihm eine so rundumschlossene Darstellung seiner Eigenwelt, wie etwa Goethe sie in »Dichtung und Wahrheit« gegeben. Auch als Autobiograph muß Stendhal naturgemäß Fragmentariker, Impressionist sein. Tatsächlich beginnt er sein Selbstbildnis nur mit lockern, zufälligen Strichen und Notizen in jenem »Journal«, seinem durch Jahrzehnte fortgeführten Tagebuch, das er selbstverständlich nur zum Eigengebrauch bestimmt. Nur notieren zunächst, nur festhalten die kleinen Erregungen, solange sie noch heiß sind, solange sie in der Hand unruhig pochen wie das Herz eines gefangenen Vogels! Nur sie nicht wegflattern lassen, alles haschen und halten, nicht dem Gedächtnis vertrauen, diesem unruhigen Fluß, der alles in seinem Laufe verschiebt und verströmt! Nicht sich scheuen, Belangloses, bloßes Kinderspielzeug der Sinne, kunterbunt in die große Truhe zu schichten: wer weiß, vielleicht beugt der Erwachsene sich gerade am liebsten über das Kuriose und Banale seines verschollenen Herzens. Darum ist es ein genialer Instinkt, der den Jüngling diese kleinen Blitzbilder des Gefühls sorgfältig sammeln und bewahren läßt; der gereifte Mann, der gelernte Psychologe, der überlegene Künstler wird sie später dankbar und kennerisch einordnen in das große Gemälde seiner Jugendgeschichte, jener Autobiographie, die er »Henri Brulard« nennt, diesen wunderbaren und romantischen Spätblick auf seine Kindheit.
Denn spät erst wie seine Romane unternimmt Stendhal den geistigen Aufbau seiner Jugend in bewußtem, autobiographischem Werke. Auf den Stufen von San Pietro in Montorio in Rom sitzt ein alternder Mann und sinnt über sein Leben nach. Ein paar Monate noch und er wird fünfzig Jahre sein: vorbei, endgültig vorbei die Jugend, die Frauen, die Liebe. Nun wäre es wohl an der Zeit, zu fragen: »Wer war ich? Wer bin ich gewesen?« Vorbei die Zeit, da das Herz sich durchforschte, um bereiter, schlagkräftiger zu werden für Aufschwung undAbenteuer: nun verlangt die Stunde schon, ein Fazit zu ziehen, zurückzuschauen. Und abends, kaum daß Stendhal von der Abendgesellschaft beim Gesandten gelangweilt zurückkehrt (gelangweilt, denn man erobert keine Frauen mehr und ist müde geworden alles lockern Konversierens), beschließt er plötzlich: »Ich muß mein Leben aufschreiben! Und wenn das getan ist, in zwei oder drei Jahren, werde ich vielleicht endlich wissen, wie ich gewesen: heiter oder melancholisch, geistreich oder ein Dummkopf, mutig oder feig, und vor allem ein Glücklicher oder ein Unglücklicher.«
Ein leichter Vorsatz, eine gewaltige Aufgabe! Denn Stendhal hat
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