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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Blatt über Blatt zusammengefaltet enthält; und gerade mit diesen ganz zufälligen achtlosen Entdeckungen beginnt eigentlich erst die Analytik in der Selbstbiographie.
    Denn gerade diese Lässigkeit, diese Indifferenz gegen Form und Architektur, gegen Nachwelt und Literatur, gegen Moral und Kritik, das herrlich Private und Selbstgenießerische dieses Versuchs macht Henri Brulard zu einem unvergleichlichen Seelendokument. In seinen Romanen wollte Stendhal immerhin noch Künstler sein; hier ist er nur Mensch und Individuum, beseelt von Neugier nach sich selbst. Sein Selbstbildnis hat den unbeschreiblichen Reiz des Fragmentarischen und die spontane Wahrheit des Improvisierten; man kennt Stendhal niemals zu Ende aus seinem Werke und nicht aus seiner Selbstbiographie. Unablässig fühlt man sich von neuem herangelockt, seine Rätselhaftigkeit zu enträtseln, im Erkennen ihn zu verstehen, im Verstehen ihn zu erkennen. So wirkt seine zwielichtfarbene, heißkalte, von Nerv und Geist vibrierende Seele noch heute leidenschaftlich ins Lebendige weiter; indem er sich selbst gestaltete, hat er seine Neugierlust und Seelenseherkunst in ein neues Geschlecht hineingestaltet und uns alle die funkelnde Freude des Selbstbefragens und Selbstbelauschens gelehrt.
    Gegenwart der Gestalt
     
    Je serai compris vers 1900. Stendhal
     
    Stendhal hat ein ganzes Jahrhundert, das neunzehnte, übersprungen, er startet im Dix-huitième, im groben Materialismus bei Diderot und Voltaire und landet mitten in unserem Zeitalter der Psychophysik, der Wissenschaft gewordenen Seelenkunde. Es hat, wie Nietzsche sagt, »zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie einzuholen, um einige derRätsel nachzuraten, die ihn entzückten«. Erstaunlich wenig an seinem Werk ist veraltet und erkaltet, ein gut Teil seiner vorausgenommenen Entdeckungen längst Gemeingut und manche seiner Prophezeiungen noch munter im Flusse der Erfüllung. Lange zurück hinter seinen Zeitgenossen, hat er sie schließlich alle überflügelt mit Ausnahme Balzacs, denn so antipodisch sie auch im Kunstwirken sich gegenüberstehen, nur diese beiden, Balzac und Stendhal, haben ihre eigene Epoche über sich hinaus gestaltet, Balzac, indem er die Schichtung und Umschichtung, die soziologische Übermacht des Geldes, den Mechanismus der Politik über die damalig geltenden Verhältnisse ins Monströse vergrößerte –; Stendhal wiederum, indem er »mit seinem vorwegnehmenden Psychologenauge, mit seinem Tatsachengriff« das Individuum zerkleinerte und nuancierte. Die Entwicklung der Gesellschaft hat Balzac recht gegeben, die neue Psychologie Stendhal. Balzacs Weltrevision hat die moderne Zeit vorausgeahnt, Stendhals Intuition den modernen Menschen.
    Denn Stendhals Menschen, das sind wir von heute, geübter im Selbstbetrachten, geschulter in Psychologie, bewußtseinsfreudiger, moralunbefangener, durchnervter, selbstneugieriger, müde aller kalten Erkenntnistheorien und nur gierig nach Erkenntnis des eigenen Wesens. Für uns ist der differenzierte Mensch kein Monstrum mehr, kein Sonderfall, als den sich der einsam
    unter Romantiker geratene Stendhal noch empfand, denn die neuen Wissenschaften der Psychologie und Psychoanalyse haben uns seitdem allerhand feine Instrumente in die Hand gespielt, Geheimes zu erlichten und Verflochtenes zu zerlegen. Doch wieviel hat dieser »merkwürdig vorausahnende Mensch« (abermals nennt ihn so Nietzsche!) von seiner Postkutschenzeit her und aus seiner Napoleonsuniform schon mit uns gewußt, wie spricht sein Nichtdogmatismus, sein frühes Wahleuropäertum, sein Abscheu vor der mechanischen Vernüchterung der Welt, sein Haß gegen alles pompös Massenheroische das Wort uns vom Munde! Wie scheint sein heller Hochmut über die sentimentalen Gefühlsblähungen seiner Zeit berechtigt, wie gut hat er seine Weltstunde in der unsern erkannt! Unzählig die Spuren und Wege, die er mit seinem abseitigen Experimentieren der Literatur eröffnete: Dostojewskis »Raskolnikow« wäre undenkbar ohne seinen Julien, Tolstois Schlacht bei Borodino ohne dasklassische Vorbild jener ersten wirklichkeitsechten Darstellung von Waterloo, und an wenig Menschen hat sich Nietzsches ungestüme Denkfreude so völlig erfrischt wie an seinen Worten und Werken. So sind sie endlich zu ihm gekommen die »âmes fraternelles«, die »êtres supérieurs«, die er zeitlebens vergeblich suchte, ein spätes Vaterland, jenes, das seine freie Kosmopolitenseele einzig anerkannte, nämlich »die Menschen, die

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