Drei Dichter ihres Lebens
ihm ähnlich sind«, hat ihm für immer das Bürgerrecht und die Bürgerkrone verliehen. Denn keiner seiner Generation, es sei denn Balzac, der einzige, der ihn brüderlich gegrüßt, steht uns heute so zeitgenössisch nah im Geist und Gefühl: durch das psychologische Medium des Drucks, durch kaltes Papier fühlen wir atemnah und vertraut seine Gestalt, unergründlich, obzwar er wie wenige sich ergründet, schwankend in Widersprüchen, phosphoreszierend in Rätselfarben, Geheimstes gestaltend und Geheimstes verhaltend, in sich vollendet und doch nicht beendet, aber immer lebendig, lebendig, lebendig. Denn gerade die Abseitigen ihrer Stunde ruft die nächste
am liebsten in ihre Mitte. Gerade die zartesten Schwingungen der Seele haben die weiteste Wellenlänge in der Zeit.
Tolstoi
Es gibt nichts, was so stark wirkt und alle Menschen in die gleiche Stimmung zwingt wie ein Lebenswerk und zuletzt ein ganzes Menschenleben. 23. März 1894, Tagebuch
Vorklang
Nicht die moralische Vollkommenheit ist wichtig, zu der man gelangt, sondern der Prozeß der Vervollkommnung. Alterstagebuch
»Es lebte ein Mann im Lande Uz. Derselbe war schlecht und recht gottesfürchtig und mied das Böse, und seines Viehs waren siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Eselinnen und viele des Gesindes. Und er war herrlicher denn alle, die gegen Morgen wohnten.«
So beginnt die Geschichte Hiobs, der mit Zufriedenheit gesegnet war bis zur Stunde, da Gott die Hand gegen ihn hob und ihn mit Aussatz schlug, damit er aufwache aus seinem dumpfen Wohlbehagen und sich die Seele quäle. So beginnt auch die geistige Geschichte Leo Nikolajewitsch Tolstois. Auch er war »obenan gesessen« unter den Mächtigen der Erde, reich und gemächlich wohnend im altererbten Haus. Sein Körper strotzte von Gesundheit und Kraft, das Mädchen
, das er liebend begehrte, durfte er heimführen als Gattin, und sie hat ihm dreizehn Kinder geboren. Seiner Hände und Seele Werk ist ins Unvergängliche gewachsen und leuchtet über die Zeit: ehrfürchtig beugen sich die Bauern von Jasnaja Poljana, wenn der mächtige Bojar an ihnen vorübersprengt, ehrfürchtig beugt sich der Erdkreis vor seinem rauschenden Ruhm. Wie Hiob vor der Prüfung, so bleibt auch Leo Tolstoi nichts mehr zu wünschen, und einmal schreibt er in einem Briefe das verwegenste Menschenwort: »Ich bin restlos glücklich.«
Und plötzlich über Nacht hat all dies keinen Sinn mehr, keinen Wert. Die Arbeit widert den Arbeitsamen an, die Frau wird ihm fremd, die Kinder gleichgültig. Nachts steht er auf vom zerwühlten Bett, wandert wie ein Kranker ruhelos auf und nieder, bei Tag sitzt er dumpf mit schlafender Hand und starren Auges vor seinem Arbeitstisch. Einmal geht er hastig treppauf und schließt sein Jagdgewehr in den Schrank, damit er die Waffe nicht gegen sich selber wende: manchmal stöhnt er, als springe ihm die Brust, manchmal schluchzt er wie ein Kind im verfinsterten Zimmer. Er öffnet keinen Brief mehr, empfängt keine Freunde: scheu blicken die Söhne, verzweifelt die Frau auf den mit einmal verdüsterten Mann.
Was ist Ursache dieser plötzlichen Wandlung? Frißt Krankheit heimlich an seinem Leben, ist Aussatz über seinen Leib gefallen, Unglück von außen ihm zugestoßen? Was ist ihm geschehen, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, daß der Mächtigste aller plötzlich so arm wird an Freude und der Gewaltigste des russischen Landes so tragisch verdüstert?
Und furchtbarste Antwort: Nichts! Nichts ist ihm geschehen, oder eigentlich – furchtbarer noch: – das Nichts. Tolstoi hat das Nichts erblickt hinter den Dingen. Etwas ist zerrissen in seiner Seele, ein Spalt hat sich nach innen aufgetan, ein schmaler schwarzer Spalt, und zwanghaft starrt das erschütterte Auge hinein in dies Leere, dieses Andere, Fremde, Kalte und Unfaßbare hinter unserem eigenen warmen, durchbluteten Leben, in das ewige Nichts hinter dem flüchtigen Sein.
Wer einmal in diesen unnennbaren Abgrund geblickt, der kann den Blick nicht mehr abwenden, dem strömt das Dunkel in die Sinne, dem erlischt Schein und Farbe des Lebens. Das Lachen im Munde bleibt ihm gefroren, nichts kann er mehr greifen, ohne dies Kalte zu fühlen, nichts kann er mehr schauen, ohne dies andere mitzudenken, das Nihil, das Nichts. Welk und wertlos fallen die Dinge aus dem eben noch vollen Gefühl; Ruhm wird zum Haschen nach Wind, Kunst ein Narrenspiel, Geld eine gelbe Schlacke und der eigene atmende gutgesunde Leib Hausung
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