Drei Dichter ihres Lebens
Wirklichkeitszeichner Tolstoi mit seiner Selbstdarstellung niemals zu Rande. Kaum hat er sich dargetan in, wie er meint, definitiver Gestalt, sei es als Nechljudow, als Saryzin oder Pierre oder Lewin, so erkennt er im beendigten Werke das eigene Antlitz nicht mehr; um die erneute Form zu fassen, muß er noch einmal beginnen. Aber ebenso unermüdlich, wie Tolstoi, der Künstler, nach seinem Seelenschatten hascht, flieht sein Selbst weiter
in seelischer Flucht, immer neue und unvollendbare Aufgegebenheit, die zu bezwingen der Willensriese sich immer neu angelockt fühlt. Dadurch entstehtkein Werk innerhalb dieser sechzig Jahre, das nicht in irgendeiner Gestalt Tolstois eigenen Umriß enthielte, und nicht eines, das allein für sich die Weite dieses Mannes umfaßte; erst als Summe ergeben alle seine Romane, Novellen, Tagebücher und Briefe seine Selbstdarstellung, dann aber auch das vielfältigste, wachsamste und kontinuierlichste Eigenbildnis, das in unserem Jahrhundert ein Mensch hinterlassen hat.
Denn niemals kann dieser Nichterfinder, er, der immer nur Erlebtes und Wahrgenommenes wiederzugeben befähigt ist, sich selbst, den Lebenden, den Wahrnehmenden aus dem Blickfeld ausschalten. Unablässig, zwanghaft, oft gegen seinen Willen und immer jenseits seines Wachwillens muß er sich bis zur Erschöpfung durchforschen, belauschen, erklären, »Wache halten« über sein eigenes Leben. Und so steht sein autobiographischer Furor nicht einen Augenblick stille, sowenig wie der Herzhammer in seiner Brust, die Gedanken unter seiner Stirn: dichten heißt für ihn immer, sich selbst richten und berichten. Es gibt darum keine Form der Selbstdarstellung, die Tolstoi nicht geübt hätte, die rein mechanische Tatsachenrevision der Erinnerung, die pädagogische, die moralische Kontrolle, die sittliche Anklage und die seelische Beichte, also Selbstdarstellung als Selbstbändigung und Selbstanfeuerung, Autobiographie als einen ästhetischen Akt und religiösen – nein, man wird nicht fertig, alle die Formeln, Motive seiner Selbstdarstellungen einzeln abzuschildern. Wir kennen den Siebzigjährigen aus seinem Tagebuch nicht minder als den Achtzigjährigen, wir wissen seine Jugendleidenschaften, seine Ehetragödie, seine intimsten Gedanken ebenso archivarisch genau wie seine banalsten Handlungen, denn, auch hier ganz Gegensatz zu Dostojewski, der »mit geschlossenen Lippen« lebte, verlangte Tolstoi, sein Dasein »bei offenen Türen und Fenstern« zu führen. Wir kennen jeden Wink und Schritt von ihm, jede flüchtigste und belangloseste Episode seiner achtzig Jahre genauso, wie wir sein physisches Bildnis von unzähligen Reproduktionen kennen, beim Schustern und im Gespräch mit den Bauern, zu Pferde und beim Pfluge, am Schreibtisch und beim Lawn-Tennis, mit der Frau, den Freunden, der Enkelin, im Schlafe sogar und im Tode. Und diese so unvergleichliche leibgeistige Darstellung undSelbstdokumentierung erscheint überdies noch gleichsam gegengezeichnet von den unzähligen Erinnerungen und Aufzeichnungen seiner ganzen Umgebung, von Frau und Tochter, von Sekretären und Reportern und zufälligen Besuchern: ich glaube, man könnte die Wälder von Jasnaja Poljana noch einmal aufbauen aus dem zu Tolstoi-Erinnerungen verholzten Papier. Nie hat ein Dichter bewußt so offen gelebt, selten sich einer mitteilsamer den Menschen aufgetan. Seit Goethe haben wir keine durch innere und äußere Beobachtung derart restlos dokumentierte Gestalt wie die seine.
Dieser Selbstbeobachtungszwang Tolstois reicht so weit zurück wie sein Bewußtsein selbst. Er beginnt schon im rosig umtapsenden Kinderleib lange vor der Sprache und endet erst im dreiundachtzigsten Jahr auf dem Totenbett, da das gewollte Wort die Sprache nicht mehr zwingt. Innerhalb dieses riesigen Raumes vom Schweigen des Anfangs bis zum Schweigen des Endes aber gibt es keinen Augenblick ohne Rede und Schrift. Mit neunzehn Jahren bereits, kaum der Schule entwachsen, kauft der Student sich ein Tagebuch. »Ich habe nie ein Tagebuch geführt«, schreibt er gleich auf die ersten Blätter, »weil ich den Nutzen eines solchen nicht absah, jetzt aber, wo ich mit der Entwicklung meiner Fähigkeiten beschäftigt bin, werde ich nach dem Tagebuch imstande sein, dem Gang meiner Entwicklung zu folgen; das Tagebuch soll Regeln für das Leben enthalten, und im Tagebuch müssen auch meine künftigen Handlungen vorgezeichnet sein.« Ganz kaufmännischer Art legt er sich zuvörderst ein Konto seiner Pflichten
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