Drei Dichter ihres Lebens
an, ein Soll und Haben von Vorsätzen und Leistungen. Über das eingebrachte Kapital seiner Person ist der Neunzehnjährige sich bereits vollkommen im klaren. Er konstatiert gleich bei der ersten Selbstinventur, daß er ein »besonderer Mensch« sei, mit einer »besonderen« Aufgabe: aber gleichzeitig stellt der Halbknabe schon unbarmherzig fest, welches ungeheure Willensmaß er noch aufbringen müsse, um seiner zur Trägheit, zur Sprunghaftigkeit und Sinnlichkeit neigenden Natur eine wirklich moralische Lebensleistung abzuzwingen. So schafft er sich selbst einen Kontrollapparat jeder Tagesleistung, um kein Quentchen seiner Kraft zu verlieren: das Tagebuch dient also zunächst als Stimulans, um sich pädagogisch zu durchschauenund – immer muß man das Tolstoi-Wort wiederholen – »Wache zu halten über das eigene Leben«. Mit unbarmherziger Schonungslosigkeit resümiert der Knabe z. B. das Ergebnis eines Tages: »Von 12 bis 2 mit Bigitschew, zu offen gesprochen, eitel, selbstbetrügerisch. Von 2 bis 4 Gymnastik: wenig Standhaftigkeit und Geduld. Von 4 bis 6 zu Mittag gegessen und unnötige Einkäufe gemacht. Zu Hause nicht geschrieben: Faulheit; ich habe mich nicht entschließen können, ob ich zu Wolkonskij fahren soll; dort wenig gesprochen: Feigheit. Habe mich schlecht benommen: Feigheit, Eitelkeit, Unbedachtsamkeit, Schwäche, Faulheit.« So früh, so rücksichtslos hart faßt sich schon die Knabenhand an die Gurgel, und dieser stählerne Griff läßt sechzig Jahre nicht ab; genau wie der Neunzehnjährige hat der zweiundachtzigjährige Tolstoi noch die Karbatsche für sich bereit, genau so zieht er sich im Alterstagebuch die Schimpfworte »feig, schlecht, träge« über, wenn der ermüdete Leib nicht vollkommen der spartanischen Disziplin des Willens pariert.
Aber fast ebenso zeitig wie der frühreife Moralist verlangt auch der Künstler in Tolstoi schon nach eigenem Bildnis, und mit dreiundzwanzig Jahren beginnt er – Unikum in der Weltliteratur! – eine dreibändige Selbstbiographie. Spiegelblick ist Tolstois erster Blick. Noch hat der Jüngling nichts von der Welt erfahren und bereits wählt er sich dreiundzwanzigjährig das einzige Erlebnis, die eigene Kindheit, als Objekt. Genauso naiv, wie der zwölfjährige Dürer den Silberstift faßt, um sein mädchenschmales, von Erfahrung noch nicht zerfaltetes Kindergesicht auf ein zufälliges Blatt zu zeichnen, versucht aus Spielneugierde der flaumbärtige damalige Leutnant Tolstoi, als Artillerist verschlagen in eine kaukasische Festung, sich seine »Kindheit«, »Knabenjahre« und »Jünglingsjahre« zu erzählen. Für wen er schreibt, denkt er damals nicht und am wenigsten an Literatur, Zeitungen, Öffentlichkeit. Er gehorcht instinkthaft einem Drängen nach Selbstklärung durch Darstellung, und dieser dumpfe Trieb ist von keiner Zweckabsicht erhellt und noch weniger – wie er später fordern wird – »vom Licht der sittlichen Forderung erleuchtet«. Der kleine Offizier im Kaukasus aquarelliert aus Neugier und Langeweile sich die Bilder seiner Heimat und Kindheit auf das Papier; er weiß noch nichts von der später bei Tolstoi vorbrechenden Heilsarmeegeste, der »Beichte«und einem Willen »zum Guten«, noch müht er sich, die »Scheußlichkeiten seiner Jugend« grell warnend zu plakatieren – nein, niemandem zu Nutz, einzig aus dem naiven Spieltrieb eines halben Knaben, der eben nichts anderes erlebt hat als dies, wie er »aus einem kleinen Kind herüberglitt«, beschreibt der Dreiundzwanzigjährige seine Handvoll Dasein, die ersten Eindrücke, Vater, Mutter, die Verwandten, die Erzieher, Menschen, Tiere und Natur. Wie sternweit ist noch dies sorglose Fabulieren von der abgründigen Analyse des bewußten Schriftstellers Leo Tolstoi, der um seiner Stellung willen sich verpflichtet fühlen wird, vor der Welt als Büßer, vor den Künstlern als Künstler, vor Gott als Sünder und vor sich selbst als Beispiel der eigenen Demut zu stehen; der da erzählt, ist nichts als frischer Junker, der sich inmitten einer Fremdheit nach der warmen Umgebung des Heimischen, nach der Güte längst entschwundener Gestalten sehnt. Als dann das Unerwartete geschieht und jene absichtslose Selbstbiographie ihm einen Namen macht, unterläßt Leo Tolstoi sofort die Fortsetzung, die »Mannesjahre«; der namhafte Schriftsteller findet den Ton des Namenlosen nie wieder zurück, niemals ist auch dem reifen Meister ein so rein bildnerisches Selbstporträt mehr gelungen. Und es dauert
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