Drei Dichter ihres Lebens
– bei Tolstoi werden alle Zahlen weit wie das russische Land – ein Halbjahrhundert, bis der vom Jüngling spielhaft aufgenommene Gedanke einer vollständigen systematischen Selbstdarstellung den Künstler wieder beschäftigt. Aber wie hat sich dann, seiner Wandlung ins Religiöse zufolge, die Aufgabe gewandelt; wie alle seine Gedanken, so wendet Tolstoi auch das Bildnis seines Lebens einzig der ganzen Menschheit zu, damit sie an seiner »Seelenwäsche« sich selber säubere. »Eine möglichst wahrhaftige Beschreibung des eigenen Lebens besitzt großen Wert von jedem Menschen und muß für die Menschen von großem Nutzen sein«, so kündigt er programmatisch die neue Selbstschau an, und umständlich trifft der Achtzigjährige alle Vorbereitungen für diese entscheidende Rechtfertigung; aber kaum begonnen, läßt er vom Werke, obwohl er noch immer »eine solche völlig wahrheitsgetreue Selbstbiographie für nützlicher hält ... als all das künstlerische Geschwätz, das zwölf Bände meiner Werke füllt und dem die Menschen von heute eine ganz unverdiente Bedeutung zuschreiben«. Denn sein Maßstab für Wahrhaftigkeitist mit der Erkenntnis des eigenen Daseins an den Jahren gewachsen, er hat die ganze vieldeutige, abgründige und verwandlungsfähige Form alles Wahrseins erkannt, und wo der Dreiundzwanzigjährige wie über spiegelglatte Flächen mit dem Schneeschuh sorglos hinwegsaust, da schreckt später der verantwortungsvoll Gewordene, der wissende Wahrheitssucher entmutigt zurück. Ihm bangt vor den »Unzulänglichkeiten, vor den Unehrlichkeiten, die sich jeder Eigengeschichte unvermeidlich einschleichen«, er befürchtet, »daß, wenn sie auch keine direkte Lüge wäre, solche Selbstbiographie doch zur Lüge würde durch falsch eingesetzte Lichter, durch eine bewußt hingelenkte Helligkeit auf das Gute und Verdunkeln dessen, was darin übel war«. Und er gesteht offen: »Dann wieder, als ich beschloß, die nackte Wahrheit hinzuschreiben und keine Schlechtigkeit meines Lebens zu verhehlen, erschrak ich vor der Wirkung, die eine solche Autobiographie haben müsse.« Aber beklagen wir nicht übermäßig diesen Verlust, denn aus den Niederschriften jener Zeit, etwa der »Beichte«, wissen wir genau, daß für Tolstois Wahrheitsbedürfnis seit seiner religiösen Krise immer unvermeidlich jeder Wille zur Darstellung eine fanatische und flagellantische Lust an der Selbstgeißelung geworden war und jedes Geständnis in eine krampfige Selbstbeschimpfung umschlug. Dieser Tolstoi der letzten Jahre wollte sich längst nicht mehr darstellen, sondern nur demütigen vor den Menschen, »Dinge sagen, die er sich selber einzugestehen schämte«, und so wäre diese endgültige Selbstdarstellung mit ihrer gewaltsamen Anprangerung seiner angeblichen »Niedrigkeiten« und Sünden wahrscheinlich eine Verzerrung der Wahrheit geworden. Zudem können wir sie vollkommen entbehren, weil wir ja eine andere, und zwar lebenumfassende, zeitumspannende Autobiographie Tolstois ohnehin besitzen, die vollständigste vielleicht, die außer Goethe ein Dichter von sich gegeben, in der Summe seiner Werke, Briefe und Tagebücher. Der kleine Adelsleutnant Olenin in den »Kosaken«, der aus der Moskauer Melancholie und Unbeschäftigtheit in Beruf und Natur flüchtet, um dort sich selber zu finden, ist bis in jeden Faden seines Anzugs, jede Falte seines Gesichtes getreu der junge Artilleriekapitän Tolstoi; der grüblerische, schwerblütige Pierre Besuchow in »Krieg und Frieden« und sein späterer Bruder, der gottsuchende, glühendum den Sinn des Daseins bemühte Landjunker Lewin in »Anna Karenina« sind bis ins Physische unverkennbar Tolstoi am Vorabend seiner Krise. Niemand wird unter der Kutte des »Vater Sergius« das Ringen des Berühmten um Heiligkeit, im »Teufel« den Widerstand des alternden Tolstoi gegen ein sinnliches Abenteuer verkennen und in dem Fürsten Nechljudow, dieser merkwürdigsten seiner Figuren (sie durchschreitet sein ganzes Werk) die tief verborgene Wunschgestalt seines Wesens, den Ideal-Tolstoi, dem er all seine Absichten und ethischen Taten auflädt. Und gar jener Saryzin in »Das Licht leuchtet in der Finsternis« trägt eine so dünne Verkleidung und verrät Tolstoi so vollkommen in jeder Szene seiner häuslichen Tragödie, daß noch heute der Schauspieler immer seine Maske nimmt. Eine so weite Natur wie Tolstoi war eben genötigt, sich in eine ganze Fülle von Gestalten zu verteilen; ganz wie Goethes Gedicht bedeutet
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