Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
mitbrachte, wenn er einen jener flüchtigen Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn er ging, mit seinem Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen in eine Druckerei zu bringen, bei einem Freunde zu speisen, oder die Bric-à-brac-Läden von Paris zu durchstöbern, war immer eher Bestätigung als Informierung. Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf irgendeine geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen Lebens in ihn eingedrungen, lag gesammelt und aufgespeichert, und es ist vielleicht mit der fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur, wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen Berufsklassen, Materien, Temperamenten und Phänomenen herbeigeholten Vorräte von Kenntnissen in ihn eingewachsen sind. Drei, vier Jahre, Jünglingsjahre, war er in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als Schreiber, dann als Verleger, als Student, aber in diesen paar Jahren muß er alles eingeschöpft haben, diese ganz unerklärliche, unübersehbare Fülle von Tatsachen, die Kenntnis aller Charaktere und Phänomene. Er muß unglaublich beobachtet haben in diesen Jahren. Sein Blick muß ein furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger, der alles, was ihm begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein Inneres, ein Gedächtnis, wo nichts vergilbte, nichts zerrann, nichts sich mischte oder verdarb, wo alles geordnet, gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach seiner wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend, sobald er nur leise mitseinem Willen und Wunsche daran rührte. Alles hat Balzac gewußt, die Prozesse, die Schlachten, die Börsenmanöver, die Grundstückspekulationen, die Geheimnisse der Chemie, die Schliche der Parfumeure, die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der Theologen, den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters und jener anderen Bühne, der Politik. Er hat die Provinz gekannt, Paris und die Welt, er, der connaisseur en flânerie, las wie in einem Buch in den krausen Zügen der Straßen, wußte bei jedem Hause, wann es gebaut war und von wem und für wen, enträtselte die Heraldik des Wappens über der Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und wußte gleichzeitig den Preis der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk mit Menschen, stellte Möbel in die Zimmer, füllte sie an mit einer Atmosphäre von Glück und Unglück und ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten Stockwerk das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen. Er hat eine enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel ein Bild des Palma Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar Weideland kostet, was eine Spitzenmasche, was ein Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der Elegants gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem Jahr zwanzigtausend Francs anbringen; und schlägt man zwei Seiten weiter, so ist es wieder die Existenz eines armseligen Rentiers, in dessen peinlich ausgetüfteltem Leben ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene Fensterscheibe zur Katastrophe wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist er unter den ganz Armen, er geht ihnen nach, wie jeder seine paar Sous verdient, der arme Auvergnate, der Wasserträger, dessen Sehnsucht es ist, das Faß nicht selbst ziehen zu müssen, sondern ein kleines, kleines Pferd zu haben, der Student und die Näherin, alle diese fast vegetabilischen Existenzen der Großstadt. Tausend Landschaften stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen nach Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumenwachsen lassen, und sie waren wie die Wirklichkeit. Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm auf, alles fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck reißt er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht, daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie mit Pulver sprengt er die goldenen Minen des

Weitere Kostenlose Bücher