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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sein Gesicht nach, fuhr über seine Augenbrauen, streichelte seine Wange und ließ ihre Hand über seinen Hinterkopf und in sein Haar gleiten.
    »Aber du bist doch mein Mann …«, sagte sie leise.
    Die verschmierte Schminke warf noch immer dunkle Schatten um ihre Augen. Aber sie sah plötzlich glücklich aus. Sie beugte sich vor und küsste ihn. Zaghaft zunächst, doch dann mit wachsendem Verlangen. Er spürte ihren Atem, ihre Zunge zwischen seinen halb geöffneten Lippen, und dann erwiderte er ihren Kuss, zog sie an sich und umarmte sie fest. Seine Hände suchten ihren Körper, und ihr Körper gab sich ihm hin. Dann hielt er inne, löste sich von ihr und schaute sie an.
    »Giulietta … was tun wir?«
    Sie küsste ihn erneut.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Dann legte sie ihren Kopf wieder an seine Brust und fragte: »Wo wirst du hingehen? Was willst du tun?«
    »Ich wohne in Madrid. Ich werde studieren. Ich will lernen.«
    »Und das Tanzen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist vorbei. Das war nicht ich.«
    Sie richtete sich wieder auf und schaute ihm in die Augen. Wie anders er aussah. Und doch war er es. Sie wollte ihm widersprechen, doch er kam ihr zuvor.
    »Ich habe dich heute Abend gesehen, Giulietta. Es war wundervoll. Deine Kunst. Das bist du. Du bist vollständig. Ich war immer nur ein Blender, ein Verrückter, der in ein Loch gestarrt hat. Ich sollte für die Welt nicht existieren, und die Welt existierte nicht für mich. Meine Tangos, das waren meine drei Minuten Wirklichkeit. Aber ich will ganz werden. Ich will leben. Nein, kein Tango mehr für mich.«
    Sie ergriff seine Hand und erhob sich.
    »Nur ein letzter … mit mir …?«
    Er schaute sie verblüfft an.
    »Bitte, Damián, nur einen …«
    Sie erhob sich, ging ohne den Blick von ihm zu nehmen zur Stereoanlage und begann, die CD -Sammlung zu durchsuchen. Nach einigen Augenblicken trat Damián hinter sie und umarmte sie. Sie brauchte eine Weile, aber schließlich fand sie, was sie suchte. Sie öffnete das Abspielgerät, legte eine CD ein, wählte den Titel aus und drückte auf den Startknopf. Dann drehte sie sich zu ihm herum.
    »Ich komme mit dir nach Madrid«, sagte sie.
    Damián erwiderte nichts. Er schaute sie nur an. Die ersten Takte der Musik erklangen. Es war das Geigen-Arpeggio von
Tanguera
.
    »Drei Minuten?«, flüsterte sie.
    Er nahm sie sanft in die Arme, wartete, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, eröffnete mit einem weit ausholenden Schritt zur Seite und verharrte dort bewegungslos bis zum Einsetzen der Klarinette. Ihre Wangen fanden zueinander, und sie schloss die Augen, als sie seine Worte vernahm, die er nah an ihrem Ohr flüsterte: »Drei Minuten, amor mío … für ein ganzes Leben.«

[home]
    Epilog
    S ie hatte sich bewusst dafür entschieden, mit dem Zug zu reisen. Sie brauchte die Zeit, um sich auf dieses Wiedersehen vorzubereiten. Sie war mit dem Nachtzug von Berlin nach Paris gefahren und hatte nach einem kurzen Frühstück am Gare d’Austerlitz den Anschlusszug nach Madrid genommen. Jetzt lag bereits die spanische Grenze hinter ihr, aber ihre Gedanken hingen noch immer in Berlin fest. Sie dachte an ihre letzten Gespräche mit Markus und an die Begegnung mit Konrad Loess noch am Vorabend ihrer Abreise. Sogar diesen Anwalt hatte sie besucht. Aber das waren alles nur Vorbereitungen gewesen. Vorbereitungen auf eine Begegnung, die sie mit Beklemmung herbeisehnte.
    Anita schaute aus dem Fenster auf die Landschaft in der Abenddämmerung. Grüne Flächen, am Horizont in Hügel übergehend. Mai. Frühling.
    Die letzten sechs Wochen hatten sie völlig erschöpft. Sie war bei eineinhalb Päckchen Zigaretten pro Tag angelangt und begann, sich für diese verfluchte Angewohnheit zu hassen.
    Als Giulietta sich nach der grandiosen Premiere nicht bei ihnen meldete, hatte sie sich zunächst nichts dabei gedacht.
    Markus sprach den ganzen Abend kein Wort und rief ungezählte Male in ihrer Wohnung an. Auf den seltsamen Zwischenfall vor der Aufführung ging er mit keinem Wort ein, und zunächst hatte sie ihn auch nicht mehr gefragt. Sie wollte zuerst mit Giulietta darüber reden.
    Aber Giulietta verschwand einfach.
    Sie hörten den ganzen Freitag nichts von ihr und erfuhren erst durch die Ballett-Direktorin der Deutschen Oper, was geschehen war. Frau Dubry rief am Freitag gegen sieben Uhr an und teilte ihnen wutschnaubend und zornbebend mit, dass Giulietta per Fax fristlos und mit sofortiger Wirkung gekündigt habe. Man möge

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